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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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bringen, bevor sie weitersprechen konnte.
    »Er will Sie sehen, Chef. Sie allein.«
    XXVI
    Das Hausmädchen, eine Frau von kupferfarbener Haut mit kräftigen Augenbrauen, führte ihn in einen Raum und bat ihn um etwas Geduld. Van Upp nickte wortlos. Sein Blick wanderte bereits aufmerksam durch das Arbeitszimmer (über die schweren weinroten Vorhänge, die hölzerne Marienstatue auf dem Schreibtisch, die Flagge an der einzigen bücherfreien Wand), als er plötzlich das Gefühl hatte, jemand beobachte ihn. Er schaute zurück, das Hausmädchen stand immer noch im Türrahmen und ließ ihn nicht aus den Augen. Sie fühlte sich ertappt, schnaufte und schloss heftig die Tür hinter sich.
    In der wieder eingekehrten Stille glaubte Van Upp durch die Wand Stimmen zu hören; es wurde gestritten. Bevor er sich ganz auf sie konzentrieren konnte, waren sie auch schon verstummt oder wurden von dem Hundegebell übertönt. Das mussten die Bulldoggen aus dem Zwinger sein, die er beim Betreten des Grundstücks gesehen hatte. Eine hatte reglos auf dem Boden gelegen, während die anderen wie wild herumgesprungen waren. Van Upp hatte sich gefragt, ob sie vielleicht krank war.
    Im Arbeitszimmer roch es nach Staub und Moschus. Van Upp fuhr mit den Fingern über die Ledersessel; sie sahen unbequem aus, als habe sie jemand entworfen, dem jede Vorstellung von Komfort fremd war. Der Raum war groß, aber die Unmenge alter Bücher und Erinnerungsstücke einer langen Militärlaufbahn verlieh ihm etwas Bedrückendes. Van Upp sah sich die Marienstatue auf dem Schreibtisch an.
    Es handelte sich um eine spanische Mater Dolorosa aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ihre Arme waren in einer Geste der Hingabe oder Resignation geöffnet. Sie war mit großer Sorgfalt, fast schon detailversessen gearbeitet: der Mund mit den schmalen blassroten Lippen, die feine Nase, die unter dem blauen Umhang hervorschauenden Locken.
    Ihre Augen waren nicht geschnitzt, sondern aufgemalt. Es sah aus, als hätte man ihr eine Augenmaske aufgesetzt, um den Eindruck zu erwecken, diese von Geburt an blinde, unfertige Jungfrau könne tatsächlich sehen. Van Upp streckte die Hand aus, um das kleine Gesicht zu berühren. Genau in dem Moment, als seine Finger sich auf das Holz legten, wurde der letzte Vorhangspalt zugezogen, und der Raum verdunkelte sich.
    »Bin ich in Gefahr?«, fragte Moliner.
    Die Stimme klang, als taste er sich vor. Einen Moment lang glaubte Van Upp, der Henker Moliner hätte Angst, doch er korrigierte sich, nein, es war nicht Furcht, die dieses leichte Vibrieren erzeugt hatte. Die Vorstellung, dass jemand seinen Tod plante, rief in Moliner etwas anderes hervor, Rührung vielleicht.
    »Es scheint einiges darauf hinzudeuten«, sagte Van Upp. »Prades und Sie werden wohl die nächsten Opfer sein.«
    Moliner tastete einen der Sessel ab, ohne Van Upp aus den Augen zu lassen, und setzte sich auf die Armlehne. Es war derselbe Mann, den Van Upp auf so vielen Fotos gesehen hatte, aber etwas an ihm war anders. Er trug nicht mehr die Uniform der öffentlichen Person, die er gewesen war, sondern ein weißes Hemd, eine schmale schwarze Krawatte und ein altes Wolljackett. Auf der Nasenspitze eine Brille mit dicken Gläsern; er sah aus wie ein Verwaltungsangestellter im Ruhestand, den man aus seiner Zeitungslektüre aufgeschreckt hatte. Van Upp gestattete sich ein Lächeln. Genau das war er, das war Moliner.
    Prades’ Stimme hallte in seinem Kopf wie eine Warnung:
    »Die meisten lassen sich von seinem Auftreten täuschen. Sie halten ihn für sanftmütig.«
    »Warum nennt man Sie der Henker?«, fragte Van Upp.
    »Sie sind sehr direkt. Das gefällt mir«, sagte Moliner. Er kratzte sich am Knöchel. »Das sollte ich meine Feinde fragen.«
    »Ich werde Prades fragen.«
    Moliner lachte auf. »Warum denken Sie, dass Prades mein Feind ist?«, fragte er. »Sie sollten nicht alles glauben, was Sie lesen, vor allem nicht den Tageszeitungen. Prades und ich sind vom Wesen her sehr verschieden, aber als Partner ergänzen wir uns perfekt. Außerdem kennt mich der General schon aus der Zeit, als man mich der Rabe nannte.«
    »Raben sind Aasfresser und Henker wie Raubvögel. Es steckt eine gewisse Logik hinter Ihren Spitznamen, sie gehen mit der Entwicklung Ihres Rufes einher.«
    »Haben Sie einen Spitznamen?«
    Van Upp leistete sich den Luxus und ließ diese Frage unbeantwortet. Er nahm ein Buch vom Schreibtisch und schlug es an der Stelle auf, wo das Lesezeichen steckte. Es handelte sich um

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