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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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durch einen Fluss.«
    »Er ist von unbestreitbarem dramatischem Wert«, sagte Van Upp.
    »Gott rette den alten Will.«
    »Gott ist der alte Will.«
    »Alles und nichts. Wir sollten irgendwann die Spielregeln ändern«, sagte Carranza. »Ich nenne erst die Stelle, zum Beispiel Hamlet, erster Akt, fünfte Szene, und Sie antworten mit einem Zitat.«
    »Irgendetwas Überraschendes bei der Autopsie von Prades?«, fragte der Ermittler.
    »Nicht, was die Todesursache angeht«, erwiderte Carranza. »Herzstillstand. Er hat zu viel Blut verloren, und es gab Entzündungsherde an verschiedenen Körperstellen. Jeder davon hätte ausgereicht, ihn zu … Das ist der physische Grund. Wenn Sie mich nach meiner persönlichen Einschätzung fragen, würde ich sagen, er ist vor Schreck gestorben, zumindest war er in Panik. Come, you spirits that tend on mortal thoughts …«
    »Woher diese Obsession mit Macbeth?«
    »Ich habe das Stück gerade wieder gelesen. Ich sollte es sein lassen, es raubt mir den Schlaf. Da fällt mir etwas ein, das ich Sie schon immer fragen wollte. Was denken Sie hinsichtlich des dritten Mörders?«
    »Keine Ahnung, wovon Sie reden.«
    »Macbeth heuert zwei Mörder an, damit sie die Drecksarbeit für ihn erledigen. Als er Banquo und Fleance aus dem Weg räumen will, bezahlt er zwei Männer …«
    »Er bezahlt sie dafür, dass sie Banquo und Fleance töten, und sagt ihnen, sie könnten auf die Hilfe eines dritten Mörders zählen, ja. Verstehe.«
    »Macbeth definiert diesen Mörder als den ›perfekten Spion der Zeit‹. Es gibt Kritiker, wie Harold Goddard zum Beispiel, die allen Ernstes die Hypothese in Erwägung ziehen, dieser dritte Mörder sei der verkleidete Macbeth.«
    »Als hätte Macbeth keine andere Wahl gehabt, als in eine Verkleidung zu schlüpfen, um das grausamste seiner Verbrechen zu begehen. Ich kann mich gut an die Diskussion erinnern.«
    »Und Sie meinen …«
    »Erzählen Sie mir was über die Jahre, in denen ich weg war«, sagte Van Upp.
    Carranza ließ das Fenster herunter und warf die halb aufgerauchte Zigarette hinaus. Er ließ es offen und schaute nach draußen, über all die Autos hinweg.
    »Sind Sie sicher, dass Sie das wissen wollen? Sie sind privilegiert. Wenn ich heute die Wahl hätte, würde ich die Unwissenheit vorziehen.«
    »Das ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.«
    »Wir waren viel zu sehr beschäftigt damals. Niemand hatte Zeit nachzudenken«, sagte Carranza kaum hörbar. Er war blass geworden und sichtlich gealtert. »Wir steckten bis zum Hals in Blut. Ich habe mehr Leichen gesehen als in meiner ganzen Laufbahn zuvor … Ständig trafen lehmverschmierte Leichen ein, die man bei Grabungsarbeiten oder in den Gemeinschaftsgräbern der Friedhöfe entdeckt hatte, unter den Habenichtsen, nach denen eh niemand fragt. Arme Leute sterben an Hunger, Kälte oder an irgendeiner Krankheit, aber niemals durch einen Genickschuss. Diese Leute jedoch waren aus nächster Nähe erschossen worden. Die Kugeln waren durch den Hals eingetreten und hatten den Schädel zerfetzt, als hätte das Opfer gelegen oder gekniet, und der Mörder … Später kamen die Leichen vom Strand. Nach dem Sommer passiert es immer mal, dass Ertrunkene wieder auftauchen und an Land gespült werden. Nur jetzt war ihre Anzahl alarmierend hoch, und ihnen steckten Kugeln im Schädel. Männer. Frauen. Blutjung. Wie in den anderen Fällen gab es Anzeichen für Folterung vor dem Tod. Brandwunden an Brustwarzen, an der Zunge, den Genitalien. Alle waren sie …« Carranza schaute auf seine rechte Hand, sie zitterte.
    »Seit damals«, sagte er, »lasse ich jede Leiche erst einmal von meinen Assistenten in Augenschein nehmen. Wenn sie kein Einschussloch im Nacken hat, wohne ich der Autopsie vielleicht bei. Aber ich führe sie nicht durch. Ich widme mich lieber dem Bürokram. Ich fülle Karteikarten aus und sage mir, ich hätte besser Geisteswissenschaften studiert oder Bettwäsche verkauft.«
    »Aber Sie haben die Autopsien der Prätorianer übernommen.«
    »Ich dachte, das wäre wichtig.«
    Van Upp zog fest an seiner Zigarette. »Möchten Sie mir noch etwas sagen?«, fragte er.
    Ein Geräusch lenkte sie ab. Schritte von mindestens zwei Männern, die durch den Widerhall noch verstärkt wurden.
    Dumont und Benet stiegen etwa zehn Meter entfernt in ein Auto. Sie schienen in Eile zu sein und bemerkten die beiden reglos im Halbdunkel sitzenden Männer nicht.
    »Ein sonderbarer Zusammenschluss«, sagte Carranza.
    »Ein

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