Der Spion der Zeit
Zusammenschluss, der nichts Gutes verheißt«, sagte Van Upp. »Ich muss mich auch sputen. Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht irgendwo absetzen soll?«
»Es tut mir leid für Sie«, sagte der Gerichtsmediziner. Seine Miene war finster, er stand noch immer unter dem Eindruck der beiden eifrigen Verschwörer. »Dieser Hinterhalt tut mir leid.«
Van Upps Auto fuhr die Rampe hoch und hinterließ einen Schweif aus Rauch.
Zu seinen Füßen entdeckte Carranza seine weggeworfene Zigarette. Sie glimmte noch. Er hob sie auf und nahm zwei tiefe Züge. Beim dritten verbrannte er sich die Finger.
XXII
Diesmal wurde er von Pater Quiroz bereits erwartet. Er saß auf der Steinbank im Schatten des Engels und zog zum Gruß den Strohhut, wie ein Schauspieler, der hofiert werden möchte.
»Für den dritten Akt hat sich unser Dramaturg aber mächtig ins Zeug gelegt«, sagte der alte Mann, ohne seine Neugier zu verbergen.
»Wie ich sehe, haben Sie die Nachrichten verfolgt.«
»Blut, Intrige, obskure Begierden: Was könnte mich daran schrecken? Außerdem – Zeitungen sind erlaubt. Es macht sie nur nervös, mich in der Nähe einer Bibel zu sehen.«
»Was ist denn das für ein Kloster?«
»Eins, das der Unwissenheit geweiht ist«, sagte der Priester und verscheuchte eine imaginäre Fliege. »Glauben Sie wirklich, dass dieser Terrorist aus den Schlagzeilen unser Schuldiger ist?«
»Natürlich nicht.«
»Das beruhigt mich. Der Mann hat nicht das Format für diese Art von Vorgehen.«
»Ich habe noch mal nachgelesen«, sagte Van Upp und schlug die Bibel, die er unterm Arm trug, an der markierten Stelle auf. »Ich habe nach einer Stelle gesucht, auf die Prades’ Tod verweisen könnte.«
»Wie ich sehe, sind Sie fündig geworden.«
»Fünftes Buch Mose. Kapitel achtundzwanzig.«
»Sie kennen sich in der Bibel aus.«
»Ich war auf einer katholischen Schule und hatte einen strengen Lehrer.«
»Erzählen Sie mir von sich.«
»Da gibt es nichts zu erzählen … Also, im Kapitel achtundzwanzig beschreibt Moses die Strafe, die Israels Volk droht, wenn es Gottes Gesetz nicht befolgt.«
»Ein Schreckensszenario, wie es sich in der Weltliteratur erst wieder bei Dante findet.«
Van Upp las: »›In der Not der Belagerung, wenn dein Feind dich einschnürt, musst du die Frucht deines eigenen Leibes essen, das Fleisch deiner Söhne und Töchter, die dir der HERR, dein Gott, geschenkt hat.‹«
Der Priester nickte wissend und sagte: »Direkt danach beschreibt er eine unvergessliche Szene: Eine Frau streitet mit ihrem Mann und ihren Kindern darum, wer das Kind verzehren darf, das sie noch im Leib trägt. Das hat mit der Erfahrung während der Belagerung Babylons zu tun. Was ist mit dem Tatort? Gab es diesmal keine Botschaften?«
»Nein.«
»Merkwürdig.«
»In der Tat. Es passt nicht. Bei den ersten beiden Verbrechen wollte der Täter nahelegen, dass die Tode Gottes Werk waren. Gott persönlich ist auf die Erde herabgestiegen, um …«
»Das sind Dinge, die Gott durchaus zu tun vermag.«
»Wollen Sie damit sagen, es gibt Dinge, die Gott nicht zu tun vermag?«
»Als Lot aus der Stadt fliehen will, sagt Gott zu ihm, er möge sich beeilen, denn, so gesteht er selbst ein, ›er könne nichts tun, bis er dort hinkäme‹. Erschreckend, nicht wahr? Jede Erfahrung, die der Gott des Tanach macht, widerspricht seinen Absichten. Nach jedem Akt stellt Gott fest, dass er nicht das getan hat, was er vorhatte, oder etwas getan hat, was er nicht tun wollte.«
»Das scheint aber ein anderer Gott zu sein als der, den man mir präsentiert hat.«
»Genau!«, rief der Priester begeistert aus. »Es ist ein Wunder, dass sich, von der Bibel ausgehend, das Bild eines allwissenden, unfehlbaren Gottes verbreiten konnte! Löst man sich von den vorgefassten Meinungen und der Lehre, dann ähnelt der Gott der Bibel einem Theaterregisseur, dessen Schauspieler ihre Sache nie gut genug machen. Folglich erlebt man ihn die meiste Zeit als schlechtgelaunt. Aber Gott weiß selbst nicht so genau, was er eigentlich will; er kommt darauf, indem er es ausprobiert. Wenn seine Schauspieler falsch liegen, liegt auch er falsch. Davon handelt die Bibel: Gott will die Menschheit nach seinem Ebenbild schaffen, während er unter Zeitdruck darum kämpft, seine eigene Identität zu definieren. Nehmen wir den Satz, den er zu Moses sagt, nachdem er ihm in Gestalt eines brennenden Dornbuschs erschienen ist. Moses will wissen, wem diese geheimnisvolle Stimme gehört. Und Gott
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