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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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auch außerhalb seines Büros hören.
    Auf dem Dach des Präsidiums, vom heftigen Wind gepeitscht, stellte sich Carranza vor, er stünde inmitten eines Orchesters, das Wagner spielte, diese mitreißende, einhüllende Musik. Er wähnte sich nur wenige Zentimeter vom Himmel entfernt; nun brauchte er bloß noch die Hand auszustrecken, und schon führen die Fingerkuppen über die scharfen Kanten der ersten Sterne.
    Heute verstand er die von den Prätorianern eingeführte Dialektik des Todes sehr gut. Erstens hatte der Tod einen wirtschaftlichen Wert: Das Töten sparte dem Staat Millionen, die er sonst hätte in das Gerichtssystem und den Strafvollzug investieren müssen. Außerdem besaß der Tod einen erzieherischen Wert. Die Aussage der Rebellen, »der Platz des gefallenen Feindes wird sogleich von einem neuen Feind eingenommen«, erwies sich als Trug, als reines Wunschdenken. Denn in Wahrheit hatte jeder unrechtmäßige Tod einen Multiplikationseffekt auf Tausende von Bürgern, die, anstatt loszulaufen und den frei gewordenen Platz einzunehmen, sich in ihre Wohnungen zurückzogen und wegschauten, die Seele waidwund vor Angst. (Es waren Wunden, die nicht von selbst verheilten, die für immer in die Körper eingeschrieben blieben.)
    Die Morde aus dem Hinterhalt hatten auch einen staatsbürgerlichen Wert: Sie demonstrierten den Bürgern ihre Wehrlosigkeit gegenüber der Macht. Selbst in der Diktatur glaubt ein Großteil der Gesellschaft, man lebe weiter im Athen von Perikles, wo die Institutionen besser sind und länger überdauern als die Menschen und wo die Regierenden, ob legitim an der Macht oder nicht, zum Gemeinwohl beitragen, wo die Gerichte Recht sprechen und die Polizeikräfte die Bürger vor Verbrechen schützen. Die Lektion der Prätorianer sollte, vor allem in Zeiten der Republik, niemals vergessen werden: Der Durchschnittsbürger muss aus seinem Traum wachgerüttelt werden und aufhören zu glauben, dass da draußen jemand ist, der über ihn wacht.
    Aber der unbestreitbarste Wert des Todes, dachte Carranza, war der, dass mit ihm der Vorhang fiel. Der Streit zwischen zwei Männern ist durch den Tod des einen für beide beendet; mögen danach auch andere den Faden wiederaufnehmen, nie mehr wird es dasselbe sein, denn dieser konkrete Streit (der geprägt ist von ihrer beider Stimmen) erstirbt unerbittlich durch den Schuss, das Schwert, das Gift. Indem er Claudio tötet, vollendet Hamlet seine Rache. Indem er Hamlet tötet, löscht Claudio seinen schlimmsten Feind aus. Indem beide sterben, ist der Streit über die Thronnachfolge in Dänemark ein anderer als der, den sie untereinander austrugen; dieser ist durch ihren Tod für immer beendet.
    Er dachte: Van Upp würde der Vergleich gefallen.
    Und: Die Prätorianer beendeten weiterhin Gespräche, auch wenn der Vorhang für sie gefallen war.
    Dessen war er sich sicher. So groß war ihre Macht über die Seelen der Menschen von Trinidad.
    Dort unten lag die Stadt. Die Lichter der Küstenstraße flackerten, eine winzige Girlande. Santa Clara, die Menschen, das Leben – so unerreichbar. Zum ersten Mal glaubte er zu verstehen, wie sich ein Flüchtling fühlen musste.
    Er ging auf den Abgrund zu, wie eine Flagge hin und her gepeitscht vom Wind. Unten, weit unten, konnte er das Tosen der Wellen hören, die sich an den Überresten der Kaimauer brachen. Sehen konnte er sie nicht. Die Erde war dunkel; der Himmel auch.
    Als er auf der Wasseroberfläche aufschlug, wurde er ohnmächtig. Eine Sekunde später zerschellte sein Körper an den Felsen.
    XXIV
    Es hatte aufgehört zu regnen. In den letzten Stunden war Regen gefallen (und zwar heftig, dem Schlamm nach zu urteilen, durch den er watete), aber er erinnerte sich nicht daran. Für Van Upp war die Erinnerung die kapriziöseste unter den Fähigkeiten des Verstandes: Sie machte, was sie wollte.
    Nachts war das Chinesenviertel unergründlich. Das fehlende elektrische Licht betonte die mittelalterliche Atmosphäre der Hüttenstraßen. Erst jetzt merkte Van Upp, dass die Wehrlosigkeit der Siedlung nur Schein war, ein gewollter Effekt. Es gab keine Zäune an den Wegen, und die Häuser hatten keine Türen. Jeder konnte durch die Dunkelheit schleichen, eine Hütte auswählen und ihre Bewohner töten; es war niemand da, der das verhindert hätte. Aber eins stand fest: Nach dem Verbrechen fände der Täter nie mehr hinaus, er würde sich im Labyrinth der Gassen und in der unendlichen Spiegelung identischer Hütten verlieren.
    Selbst Van

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