Der Spion der Zeit
Als man schon glaubte, man habe die Lage im Griff, ging eine der Seitentüren auf, und Van Upp taumelte mit verkohlten Mantelschößen heraus, er rief etwas in einer unver ständlichen Sprache.
»Was bedeutet 5.5.3.?«
»›Zahlreiche Verletzte oder Tote am Einsatzort.‹ Die Halle brannte. Man fand sechs Leichen, zwei davon fast vollstän dig verkohlt.«
»Konnten sie identifiziert werden?«
»Nur fünf von ihnen. Einwanderer mit Vorstrafen.«
»Und der Sechste?«
»Carranza sagte damals, das organische Material würde für eine Identifizierung nicht ausreichen.«
»Was ist mit den Gebäudeinhabern?«
»Es war ein Warenlager der Euro-Bombay, Import – Export«, sagte Dumont. »Sie hatten unweit von hier eine Handelsniederlassung. Kurz nach dem Skandal wurde sie geschlossen. Die fünf Toten standen auf der Gehaltsliste der Firma. Der Vertreter der Euro-Bombay in Trinidad, ein gewisser Chiang, war zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt am falschen Ort: Er war einer der wenigen, die verhaftet wurden.«
»Heißt das, er sitzt im Gefängnis?«
»So steht es hier.«
»Schmuggel, illegale Einwanderung … Der Mann verbüßt gerade den ersten Teil einer langen Strafe.«
»Man weiß ja nie, manchmal können die Leute von den Botschaften mehr ausrichten als …«
Benet nahm den Telefonhörer ab und wählte eine kurze Nummer.
»Alcántara? … Aha, verstehe. Mit wem spreche ich? … Benet hier, von der Abteilung Eins. Ich möchte wissen, ob ein Mann namens David Chiang, mit c-h-i, noch in einem unserer Gefängnisse einsitzt. Er wurde vor zehn Jahren verhaftet.«
Mit einem gewissen Bedauern legte Dumont die übrigen Mappen wieder aufeinander, er wirkte wie ein Student, dessen Forschungsprojekt abgelehnt wurde. Benet schnippte mit den Fingern, um ihn aus seiner Gedankenversunkenheit zu reißen.
»Können Sie Auto fahren?«, fragte er und hielt mit einer Hand den Hörer zu.
Dumonts Antwort wartete er gar nicht ab; Benets Ge sprächspartner war zum Telefon zurückgekehrt und nahm seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Genau. Ja, das ist der Mann. Ich danke Ihnen.«
Er legte auf.
»David Chiang verbüßt eine zwanzigjährige Gefängnisstrafe bei uns. Was halten Sie von einer kleinen Spazierfahrt am Meer?«
XXI
Auf jeden seiner Schritte folgte ein Echo. Die Decken der Tiefgarage waren niedrig, keine Fenster und keinerlei Verbindung zur Außenwelt. Er benutzte lieber die Rampe als die Treppe, bei der er stets den Eindruck hatte, sie würde nach unten hin immer enger. In den Tiefen des Polizeipräsidiums beschlich einen immer dieses klaustrophobische Gefühl. Wer konnte schon vergessen, dass die Steine, Streben und der Beton an einer Wand dem unermesslichen Druck der Wassermassen des Meeres direkt ausgesetzt waren?
Van Upp nahm hinterm Lenkrad Platz. Er betrachtete das Armaturenbrett, die geschwungenen Linien und die Eleganz der Präzisionsinstrumente, die eine kindliche Freude weckte. Er fragte sich, wie es wäre, wenn die Zeit, der Erfindungsreichtum und die Mühe, die in diesen Teilen steckten, einem anderen Wissen zugute gekommen wären; einem Wissen, das nicht Körper, sondern Seelen an einen anderen Ort bringt; ein Wissen, mit dem man zu ganz anderen Zielen gelangt, solchen, die näher am Glück oder zumindest näher an der Weisheit lagen.
Carranza klopfte an die Scheibe auf der Beifahrerseite, öffnete die Tür und ließ sich in den Sitz fallen.
»Müde?«, fragte Van Upp.
»Kann man wohl sagen. Haben Sie eine Zigarette?«
Van Upp gab ihm Feuer. Carranza blies den Rauch langsam aus und ließ den Kopf auf die Stütze sinken.
»Wunderbar. Ich habe schon seit Jahren keine mehr geraucht.«
»Erinnern Sie sich an Beni Said?«, fragte Van Upp. »Den Besitzer des Restaurants?«
»Den man mit der Wasserpfeife erdrosselt hat?«
»Genau den.«
»Wollen Sie mich damit überzeugen, dass Rauchen schädlich ist?«
»Beni Said hatte einen Bruder, Tony. Er schickt mir seit damals jeden Monat eine Kiste hiervon. Regelmäßig, selbst damals, als ich in der Klinik lag.« Auch Van Upp steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. »Da drinnen waren sie Gold wert.«
Sie schwiegen eine Weile, ohne sich anzusehen.
»Ich frage mich«, sagte Carranza schließlich, »ob im sechzehnten Jahrhundert der Wahnsinn tatsächlich so verbreitet war, wie man Shakespeares Werken entnehmen kann. Hamlet täuscht ihn vor. Ophelia leidet daran. Lady Macbeth verfällt ihm. Lear geht durch ihn hindurch wie
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