Der Spion der Zeit
antwortet ihm: ›ich bin der, der ich bin.‹ Wissen Sie, was ich meine?«
Van Upp nickte kaum merklich.
»Als Moses Gott fragt, wer er ist, erwidert er: ›ich bin der, der ich bin‹ – eine Form, seinen wahren Namen geheim zu halten. Es ist nachvollziehbar, dass er ihn nicht der gesamten Menschheit preisgibt, aber warum sollte er ihn vor Moses verbergen, den er auserwählt hat und bis zum Ende lieben wird? Dafür fallen mir zwei Erklärungen ein.«
»Ich höre.«
»Die erste«, sagte der Priester, »ist, dass Gott Moses mitteilt, was für ein Geschöpf er in Wirklichkeit ist. Ich-bin-der-ich-bin. Im Original: Ehyeh-Asher-Ehyeh. Das Wort ehyeh bedeutet ›ich bin‹, aber es kann auch als ›ich werde sein‹ gelesen werden, also umfasst es Gegenwart und Zukunft zugleich. Wir könnten den Satz folgendermaßen lesen: ›ich bin, der ich sein werde‹. Gott sagt Moses, dass ER, wie seine Geschöpfe, nur in einem Moment leben kann. Er ist nicht imstande, in seinem Anfang sein Ende zu sehen. Er lebt sich selbst als Projekt: als jemand, der er werden wird, der den Zustand höchster Vollkommenheit erreichen wird, der sein wird, aber nicht heute. Morgen vielleicht. Wenn alles gut geht.«
»Er definiert sich über seine Wünsche, wie ein Mensch, der sagt, er will Architekt oder glücklich werden«, ergänzte Van Upp.
»Genau!«, sagte Quiroz. »Die zweite Erklärung ist, dass Gott vor Moses seine wahre Identität geheim halten will. Er suggeriert ihm wahrheitsgemäß, er sei Gott, aber er gibt sich nicht wirklich zu erkennen. Wenn diese Erklärung zuträfe, müsste man sich die Frage stellen: Wer ist dieses Geschöpf, das durch einen Dornbusch spricht, und warum ist ihm so sehr daran gelegen, Moses davon zu überzeugen, dass es Gott ist? Tut mir leid. Ich langweile Sie, nicht wahr?«
Van Upp sah den Krimi an, der immer noch in der Kiste des Priesters lag, Der Spion der Zeit.
»Haben Sie den Mörder schon entlarvt?«
»Ich bin kurz davor«, sagte der alte Mann. »Aber Sie haben Ihren, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Van Upp.
»Sie machen gar keinen glücklichen Eindruck.«
»Im Roman zielt alles darauf ab, die Wahrheit aufzudecken«, sagte Van Upp. »Die Wahrheit ist gleichbedeutend mit dem Ende. Aber im realen Leben ist die Wahrheit erst der Anfang.«
XXIII
Carranza saß da bis zum Abend und schrieb. Es war schon spät, als er seinem Assistenten einen Umschlag in die Hand drückte und ihm das Versprechen abrang, ihn gleich am Morgen zur Post zu bringen. Dann zog er sich in sein Büro zurück und suchte im Radio nach einem Klassiksender.
Er geriet mitten hinein in den letzten Akt der Nibelungen. Wagner war durch die Prätorianer in Misskredit geraten und inzwischen quasi verbannt worden, denn während der Diktatur hatten es die Sender mit Siegfried und den Walküren ziemlich übertrieben. Doch abgesehen von seiner Schwäche für den Übermenschen gab es im Prinzip keinen Grund, den armen Richard mit dem Regime in Verbindung zu bringen. Der Programmleiter des Senders schien das auch so zu sehen. Allein dass er die Nibelungen spielte, klang wie eine Grundsatzerklärung, es war eine Kulturrevolution in Miniatur, eine kleinbürgerliche Geste der Rebellion.
Wagner passte zu Carranzas Grundstimmung, genau wie manch ein Stück von Vivaldi oder der Mozart von Don Giovanni es taten. Carranza vertrat die Ansicht, die populäre Musik sei für die erste Lebenshälfte gedacht, die Zeit, in der noch alles möglich war: die Aufforderung zum Spiel der Kinderlieder, die lebensfrohe Energie der Tanzmusik und der Schlager, die Erotik romantischer Balladen, Hymnen und Märsche als Hintergrundmusik zu den politischen Heldentaten … Die Oper hingegen lernt man erst schätzen, wenn man die fünfzig überschritten hat; wenn einem angesichts des immer näher rückenden Todes die Banalität jeglichen Unterfangens bewusst wird (was durchaus komödienhafte Züge hat: Der Protagonist merkt, dass er sich hat täuschen lassen und in dieselbe Falle getappt ist wie seine Vorfahren) und man geläutert feststellt, dass einem noch die Wahl bleibt, entweder in aller Stille zu erlöschen oder sich mit einem großen finalen Knall zu verabschieden (der den Lauf der Geschichte auch nicht zur Vollkommenheit verändern wird: Darin liegt der tragische Aspekt).
Er drehte das Radio lauter. Um diese Uhrzeit war das Präsidium nahezu leer und niemand da, der hätte protestieren können. Er verließ den Raum und ließ die Tür offen, er wollte Wagner
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