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Der Sprung ins Jenseits

Der Sprung ins Jenseits

Titel: Der Sprung ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Darlton
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hat?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nichts von mir und meinem früheren Dasein. In dieser Hinsicht weißt du mehr als ich.«
    Ich sah auf die Uhr.
    »Es ist bald Mittagszeit, Yü. Ich habe Hunger.«
    »Gib mir die Uhr, sie ist eine störende Erinnerung an das Leben in der Zivilisation. Vergiß, daß es so etwas wie Zeit gibt. Wenn du Hunger verspürst, so iß – aber iß nie, weil es gerade an der Zeit ist. Schlafe nur dann, wenn du müde bist, aber nie, weil es draußen dunkel ist. Lebe nach den Wünschen deines Körpers und deiner Seele, nicht nach dem Willen der Zeit. Werde erst einmal richtig und wahrhaftig frei, dann hast du den ersten Schritt erfolgreich getan.«
    »Das ist alles nicht so einfach, Yü. Es können Tage oder Wochen vergehen, ehe ich mich daran gewöhne. So schnell kann sich der Mensch nicht umstellen und alles vergessen, was für ihn die Grundlage des Lebens gewesen ist.«
    »Du mußt Geduld haben, Alan, viel Geduld. Du bist jetzt achtundzwanzig Jahre alt, also noch sehr jung. Wenn du fünf oder zehn oder fünfzehn Jahre in der Einsamkeit dieses Klosters verbracht hast, wirst du den zweiten Schritt getan haben. Und der zweite Schritt läßt dich bereits das Reich der Unsterblichen betreten. Was sind schon fünf oder fünfzehn Jahre, verglichen mit der Ewigkeit?«
    »Fünfzehn Jahre, das ist fast ein Viertel des Lebens!«
    »Ein Viertel des Lebens? Ja, dein Körper wird altern. Aber was erhältst du dafür? Deine Seele – deine bewußte Unsterblichkeit, und nicht das Umherirren im Dunkel.«
    »Du mußt mir verzeihen, aber mir fällt es schwer, das alles zu begreifen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich so lange Zeit in einer einsamen Zelle und in diesem Kloster verbringen soll. Ich bin noch immer der Sklave aller bisherigen Vorstellungen. Ich habe immer noch Angst, etwas zu versäumen. Vor allen Dingen habe ich Angst, Zeit zu verlieren.«
    »Wenn du etwas verlierst, dann wird es natürlich Zeit sein. Aber nicht Zeit in dem Sinn, wie du es meinst, sondern du wirst deinen Beherrscher und Tyrannen verlieren. Versuche es also, Alan. Du mußt Geduld und Zuversicht haben. Dann kannst du alles gewinnen.«
     

 
3.
     
    Es war wieder Sommer geworden, und der Schnee hatte sich auf die höchsten Gipfel der Berge zurückgezogen. Das Hochplateau und die Wüste waren ausgetrocknet. Im Garten des Klosters hingegen war das anders. Die ständige Bewässerung, von der Leitung aus den Bergen gespeist, sorgte für eine reichhaltige Vegetation und damit für das notwendige Frischgemüse, die Nutzpflanzen – und auch für die Blumen.
    Außer der Zelle, in der ich wohnte, war der Garten meine Heimat, meine ganze Welt geworden. Seit Yü mir die Uhr weggenommen hatte, spielte der Ablauf der Stunden in meinem Leben keine Rolle mehr. Die langen Abende und Nächte verbrachte ich in meiner Zelle, während ich mich tagsüber, wenn das Wetter schön war, im Garten aufhielt. Hier war ich allein mit meinen Gedanken, mit mir und mit der Welt. Zum erstenmal in meinem Leben war ich wirklich glücklich.
    An diesem Tag hatte ich Yü mindestens zwei Wochen lang nicht gesehen. Seit zwei Jahren brachte mir ein anderer Mönch das tägliche Essen; der Alte, der es vorher getan hatte, war inzwischen gestorben. Da zu wenig Holz vorhanden war, um seinen Körper zu verbrennen, hatte man ihn auf dem kleinen Friedhof begraben, der hinter dem Kloster lag. Eine Steintafel verriet, daß Yo Me Tang ins Nirwana eingegangen war.
    Überhaupt hatten Yü und ich uns in letzter Zeit nur selten gesehen. Das bedeutete keineswegs, daß wir uns nichts mehr zu sagen hatten – im Gegenteil.
    Ich ging den Pfad entlang und fand meine Bank unbesetzt. Es kam selten vor, daß hier andere Mönche waren. Aber hin und wieder geschah es doch. Dann saß ich neben ihnen, und schweigend genossen wir die Stille dieser Welt. Ab und zu sprachen wir auch miteinander, aber es waren belanglose Dinge. Sie betrafen den Klostergarten, das Wetter oder das immer weiter fortschreitende Siechtum unseres Abtes.
    Aber heute war die Bank leer. Ich setzte mich mit dem Rücken gegen die brüchige Steinmauer des Klostergartens. Ich blickte auf das Kloster, das in der Glut der Mittagssonne weit unter mir lag. Nach der einen Seite wurde der Horizont vom Gebirge begrenzt, hinter dem Kloster durch die Steinwüste. Dieser Horizont bedeutete für mich das Ende der Welt, aber dieser Gedanke bedrückte mich nicht.
    In den ersten fünf Jahren meines Aufenthalts im Kloster war ich

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