Der Sprung ins Jenseits
nicht so glücklich gewesen. Tage und Wochen waren in qualvoller Langsamkeit vergangen und wurden schließlich zu Monaten. Aus den Monaten wurden Jahre. In diesen fünf Jahren war ich keinen Schritt weitergekommen. Aber ich hatte mich dank Yüs Hilfe daran gewöhnt, den Sinn des Lebens woanders zu suchen. Nicht die Jagd nach Reichtum und vermeintlichem Glück bedeutete das Leben, sondern nur die Abkehr von diesen Dingen brachte das wahre Glück. In diesen Jahren hatte ich versucht, die Erinnerung meiner Seele an die Vergangenheit zu wecken. Es gelang mir nicht. Meine Seele gab mir keine Antwort. Die nächsten fünf Jahre brachten mich meinem Ziel näher. Ich wurde ruhiger und abgeklärter. Es gelang mir, mich stundenlang auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren, ohne abgelenkt zu werden. Selbst das Erscheinen anderer Mönche im Garten störte mich nicht mehr. Wenn ich in der Zelle war, konnte man mir das Essen bringen, ohne daß ich es bemerkte. Es stand dann plötzlich auf dem Tisch und ich wußte nicht, wie es dahin gekommen war. Ich näherte mich bewußt jenem Stadium, das man als vollkommene Selbstversenkung bezeichnen konnte.
So vergingen zehn Jahre, und dann noch einmal sechs Jahre.
Heute war ich sechzehn Jahre im Kloster. Ich war älter und stiller geworden. Ich hatte auch herausgefunden, daß jene Sekunden der Erkenntnis, wie ich sie genannt hatte, kein Zufall gewesen waren. Es waren Augenblicke gewesen, in denen das Gehirn seine ganze Fähigkeit einsetzte. Im normalen Leben bewegen sich die Gedanken des Menschen relativ langsam. In solchen Augenblicken aber schienen sie mit Lichtgeschwindigkeit dahinzurasen. Warum sie das plötzlich taten, war mir unerklärlich. Eines aber wußte ich: Ich war nicht der einzige Mensch, der das erlebte.
Mehr als einmal glaubte ich, das Ziel erreicht zu haben, aber immer wieder mußte ich erkennen, daß der entscheidende Schritt genauso schwer war wie jener erste, für den ich so lange Zeit benötigt hatte. Oft aß oder trank ich tagelang nichts. Ich lag auf meinem Bett, wanderte unruhig in meiner Zelle auf und ab und rief meine Seele. Noch niemals war sie gekommen.
Heute war ich vierundvierzig Jahre alt, ohne etwas Entscheidendes erreicht zu haben. Mein Freund Yü Fang, nun einundfünfzig Jahre alt, war geduldiger als ich. Er schien zu wissen, daß die Entscheidung kurz bevorstand und daß Ungeduld der gefährlichste Hemmschuh auf dem Weg zu dieser Entscheidung war.
Die Hitze machte mich schläfrig. Ich lehnte den Kopf gegen die Mauer und schloß die Augen. Das Blut in den Lidern färbte die Welt rot. Ich schwamm in einem roten Meer. Als blauer, flimmernder Punkt wanderte die Sonne von oben nach unten und verschwand. Dann erschien sie oben wieder und begann ihre Wanderung von neuem. So sehr ich auch versuchte, die Augen fester zu schließen, es gelang mir nicht, das ewige Auftauchen und Verschwinden des wandernden Flecks aufzuhalten.
In diesem Augenblick muß ich eingeschlafen sein. Ich begann zu träumen – wenigstens glaubte ich, daß es ein Traum war.
Ich konnte sehen und denken und hören, aber ich konnte nicht fühlen. Ich schwebte einige Meter über der Steinbank, auf der ich saß. Meine Gestalt war zusammengesunken, der Mund halb offen und die Augen geschlossen. Kraftlos lagen beide Hände neben mir auf der Bank. Mir war, als wolle mich etwas zu diesem Körper hinabziehen, der doch ich selbst war. Ich sträubte mich dagegen – und dann stieg ich höher. Ich konnte den ganzen Garten bis hinab zum Kloster überblicken. Ich sah die Helligkeit der Sonnenstrahlen, aber ich spürte ihre Hitze nicht. Ein bislang ungeahntes Gefühl vollkommener Freiheit überkam mich. Ich wünschte mich ein wenig weiter nach links, von wo aus ich meinen Körper auf der Bank besser beobachten konnte – und im Bruchteil einer Sekunde war ich dort. Ich versuchte es mehrmals in verschiedene Richtungen, und es gelang jedes Mal. Ich war frei, absolut frei von Erdenschwere und allen sonstigen Fesseln.
Natürlich mußte es ein Traum sein! Ein Traum, der die erste Stufe der völligen Loslösung der Seele vom Körper darstellte. So mußte es sein, wenn ich das Gefängnis sprengen konnte, in dem meine Seele fast ein Leben lang eingesperrt gewesen war.
Oder war es doch kein Traum?
Ich sank wieder tiefer, meinem Körper entgegen. Die Abwärtsbewegung hörte auf, als ich nicht mehr tiefer sinken wollte. Ich sah mich jetzt aus knapp zwei Meter Entfernung und beobachtete mich genau. Ich
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