Der Sprung ins Jenseits
Aufseher, und du warst auch jener Mann, der unter dem Fallbeil endete. Ich weiß nicht, warum die Erinnerung an jene Ereignisse in dir geweckt wurde; so etwas geschieht nur sehr selten. Die Seele ist unsterblich und wandert von Körper zu Körper. Sie kann diesen Körper bei seinem Tode verlassen, und sie findet eine neue Heimat in einem Neugeborenen. Das alles sind Tatsachen, die uns schon seit Jahrtausenden bekannt sind. Was glaubst du, warum wir, wenn der alte Dalai Lama stirbt, uns auf die Suche nach dem neugeborenen Knaben begeben, der seine Seele aufgenommen hat?«
Ich hatte aufmerksam zugehört. Obwohl Yü Fang der einzige Mensch auf der ganzen Welt war, zu dem ich Vertrauen hatte, war ich doch froh, daß er mir keine Fragen stellte, sondern meine Geschichte akzeptierte, ohne sich zu wundern. Die Erinnerung an die Vergangenheit schien für ihn etwas Selbstverständliches zu sein.
Ich fragte:
»Und wie kommt es, daß wir nie etwas davon wußten?«
»Viele Menschen wußten es, aber niemand glaubte ihnen. Die christliche Religion setzt zwar das Vorhandensein einer Seele voraus, aber sie läßt sie nach dem Tod in den Himmel wandern, der in diesem Fall nichts anderes als der Weltraum ist. So ganz ohne Grund ist dieser Glaube nicht entstanden. Ich bin sogar fest davon überzeugt, daß manche Seelen den sterbenden Körper verlassen, um in der Unendlichkeit zu verschwinden. Ich weiß aber heute auch, daß aus dem Raum neue Seelen zu uns gelangen – und zwar viel mehr als uns verlassen. Die letzten Jahrzehnte haben uns fast eine Invasion von neuen Seelen gebracht.«
Ganz still saß ich da und sah Yü an.
»Eine Invasion der Seelen? Das verstehe ich nicht. Woher will man das wissen?«
»Niemand weiß es – niemand außer mir und einigen wenigen Vertrauten. Die Bevölkerung wächst von Tag zu Tag. Woher sollten diese Menschen kommen, gäbe es nicht genügend Seelen? Ein Mensch ohne Seele – und auch das gibt es – ist ein Mensch ohne Herz. Er kann aber auch das sein, was wir als geistesgestört bezeichnen. Er hat einen Verstand, er weiß ihn aber nicht zu gebrauchen. Er hat kein Gefühl und kennt nur das eigene Ich. Er hat aber nicht das, was wir als Seele bezeichnen. Die Menschheit wächst, aber die Zahl der Geisteskranken wächst keinesfalls im gleichen Verhältnis. Woher also kommen die Seelen?«
Ich starrte in die flackernde Flamme.
»Ich verstehe sehr gut, was du meinst. Aber ich kann deine Worte nicht als Tatsachen akzeptieren. Du würdest alle Religionen der Menschheit in Frage stellen. Du behauptest etwas, das das Gefüge der Welt erschüttern könnte.«
»Was ich dir sage, ist Gewißheit. Und schon gar nicht würde ich die Religionen der Menschheit in Frage stellen. Im Gegenteil. Alles, so unglaublich es auch klingen mag, steht im Einklang mit allen bestehenden Religionen der Menschheit, die doch alle den gleichen Ursprung haben und nur der Mentalität der Völker angeglichen wurde. Es gibt nur den einen Gott, den wir Buddha, Jehova, Christus oder auch Manitu nennen. Meinetwegen auch Allah. Aber ich behaupte, daß der Buddhismus der Wahrheit am nächsten kommt. Denn der Buddhismus, der von Indien über Umwegen nach Tibet kam, konnte sich in dieser Abgeschiedenheit am reinsten erhalten.«
Ich spürte, wie die alte Unruhe wieder zurückkehrte. Was Yü hier behauptete, war phantastisch. Ich war zu ihm gekommen, um eine Erklärung zu finden. Eine Erklärung für das, was ich erlebt hatte. Also fragte ich:
»Was hat das alles mit meinen Erlebnissen zu tun?«
»Die Antwort darauf gab ich dir bereits, Alan. Ich kann dir nur nicht erklären, warum gerade du die Wahrheit so deutlich zu spüren bekamst. Vielleicht war es eine Art Rückfall. Vielleicht war der Eindruck, den das damalige Leben auf deine Seele machte, so gewaltig, daß sie ihn nie vergessen konnte. Der Original-Eindruck kam in der Erinnerung zum Ausbruch, als du die Kopie davon erblicktest. Das in allen Einzelheiten zu klären dürfte schwer sein – zumindest im Augenblick. Wenn du Geduld hast, wirst du das Geheimnis eines Tages begreifen können. Ich selbst bin der endgültigen Lösung auf der Spur. Was das Leben ist, weiß ich. Aber ich weiß noch nicht, wie wir die Seele bloßlegen können.«
»Die Seele bloßlegen – was meinst du damit?«
»Selbst wenn ich versuchte, es dir zu erklären, würdest du es heute noch nicht begreifen. Du würdest mich für irrsinnig halten. Du mußt Geduld haben. Nur noch ein paar Jahre – und wir sind
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