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Der Sprung ins Jenseits

Der Sprung ins Jenseits

Titel: Der Sprung ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Darlton
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Peitsche. Er war ein gutmütiger Mensch, er hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können. Siehst du sein Gesicht noch vor dir? Natürlich ist es ein fremdes Gesicht – aber es war mein Gesicht, wie es damals aussah. Dieser Sklavenaufseher – das war ich! «
    Heute weiß ich, daß ich damals nur das erste Glied der Kette entdeckt hatte. Das erste Glied in einer Kette, die weder Anfang noch Ende besitzt. Ich war nach Tibet gekommen, um nach Anfang und Ende zu suchen.
    Aber damals, als ich meiner Frau davon erzählte, geschah etwas Schreckliches. Sie lachte mich aus. Und dann schlief sie ein. Ich aber lag noch lange wach. Und je länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde das Bild, das aus der Vergangenheit vor mir auftauchte. Ich wußte, daß ich in dieser Nacht noch einmal der Sklavenaufseher Mahmed gewesen war. Auf meinen Befehl schwebten die riesigen Quader mühelos in die Luft und senkten sich, ganz wie ich es wollte, leicht auf die bereits halbfertige Pyramide. Als ich am anderen Morgen müde und zerschlagen erwachte, war die Erinnerung verblaßt. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, wie ich auf die Wahnsinnsidee verfallen konnte, mich für einen dieser Ägypter zu halten. Für einen Ägypter, der schon seit Jahrtausenden tot war.
    Ein knappes Jahr später starb meine Frau bei der Geburt des ersten Kindes, das tot zur Welt kam.
    Für eine Weile vernachlässigte ich meine Studien. Zurückgezogen und einsam lebte ich in der großen Wohnung. Jenen Vorfall im Kino hatte ich längst vergessen.
    Und dann geschah es zum zweitenmal …
    Ein Freund hatte mich mitgenommen. Den Namen des Schauspiels habe ich heute vergessen. Ich weiß nur noch, daß es die Französische Revolution behandelte.
    Als der Held des Stückes, irgendeine historische Figur, seinen letzten Gang antrat und auf dem Wagen zum Richtplatz gefahren wurde, als dann der Kopf unter dem Fallbeil der Guillotine lag – da schrie ich entsetzt auf und sackte halb bewußtlos auf meinem Sitz zusammen. Zum Glück verstand mein Freund meine Reaktion falsch. Er wußte, daß meine Frau erst vor kurzem gestorben war und daß ich sie sehr geliebt hatte. Er brachte mich nach Hause. Vor der Wohnungstür erkundigte er sich:
    »Soll ich dich hinaufbringen?«
    »Nein, danke. Es ist schon wieder gut. Das Stück, weißt du …«
    »Ja, ich verstehe dich gut. Es war zu aufregend für dich. Du mußt dich schonen. Es wäre gut, wenn du einmal Urlaub machtest. Geh in die Berge. Oder vielleicht solltest du mehr unter Menschen sein …«
    »Nein, nur keine Menschen!« antwortete ich. »Ich muß allein sein. Gute Nacht. Und nochmals vielen Dank.«
    Ich hatte die Tür hinter mir abgeschlossen und mich hastig ausgezogen. Ich duschte mich und legte mich ins Bett. Ich löschte das Licht und starrte gegen die Decke.
    Und dann erlebte ich alles noch einmal …
    Die johlende Menge geleitete mich zum Richtplatz. Als die Guillotine in der Ferne auftauchte, ergriff mich panische Angst. Meine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Es war nicht zum erstenmal, daß ich Todesangst verspürte.
    Als man das Blutgerüst mitten auf dem Marktplatz erreichte, stieß man mich vom Wagen. Die wenigen Stufen mußte man mich hinauftragen, da mir meine Beine den Dienst versagten. Rohe Fäuste drückten meinen Kopf nach unten, schoben ihn durch eine Öffnung. Dann wurde es plötzlich schwarz vor meinen Augen, ein gräßlicher Schmerz durchzuckte mich – und dann wußte ich von nichts mehr.
    Ich sah wieder die Decke über mir, und ich wußte, daß ich es nicht geträumt hatte. Ich wußte plötzlich, daß ich im Jahre 1794 von den Revolutionären hingerichtet worden war, und ich wußte auch, warum. Ich hatte zwei Freunde Robespierres bei einem Duell getötet.
    Genau wie in dem Schauspiel heute abend. Ich schloß die Augen und versuchte zu schlafen.
    Nur langsam verblaßte die Erinnerung.
    Zweimal war ich mir selbst begegnet. Soviel ich wußte, lebte ich nun das drittemal.
    Aber vielleicht war ich auch nur verrückt geworden.
     
    In Yü Fangs Zelle herrschte für einige Minuten Schweigen. Draußen dämmerte es schon. Mit ruhigen Bewegungen entzündete Yü eine Lampe. Der Docht schwamm in flüssigem Fett, und die flackernde Flamme verbreitete einen ranzigen Geruch. An den Wänden tanzten unsere Schatten wie bizarre Geister auf und ab.
    »Nein, du bist nicht verrückt«, sagte Yü Fang und schaute nachdenklich in die kleine Flamme. »Du hast auch keine Täuschung erlebt. Du warst wirklich jener

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