Der Stalker
vorgehen. Wir werden ihn fassen. Das sind wir Ben schuldig.«
Das Briefing war zu Ende.
81 Rose hatte Todesangst.
Sie lag in der verdreckten Kabine irgendeines heruntergekommenen Bootes, die Augen weit aufgerissen, und wagte nicht, sich zu rühren oder auch nur zu atmen. Wie eine kleine Maus, die im Angesicht eines Raubtiers erstarrt, in der Hoffnung, auf diese Weise davonzukommen.
Seine Hände waren überall. Sein Atem war in ihrem Ohr zu hören, ein raues, heiseres Grunzen. Seine Hände bewegten sich wie im Fieber über ihren Körper. Begannen an ihren Kleidern zu zerren …
Sie schloss die Augen und versuchte, sein Gesicht auszublenden und im Kopf irgendwohin zu flüchten, wo sie in Ruhe nachdenken konnte. Sie musste rekonstruieren, was passiert war. Überlegen, was sie tun sollte. Wie war sie hierhergekommen? In Gedanken ging sie Schritt für Schritt zurück.
Sie hatte ihn gar nicht kommen sehen, sonst hätte sie sich gewehrt. Und als sie dann gesehen hatte, was er mit Ben gemacht hatte, wie Ben zusammengebrochen war … War er tot? Oh Gott … das Blut. So viel Blut …
Und jetzt lag sie hier. Sie war vor Angst wie gelähmt gewesen, während er auf sie eingeredet hatte. Wenigstens hatte sie vermutet, dass er redete, verstanden hatte sie nicht ein einziges Wort. Kein Wunder. Sein Mund – sein ganzes Gesicht – war vollkommen entstellt. Sie hatte ihn sich die ganze Zeit, während er mit ihr »sprach«, genau angesehen.
Das war eindeutig nicht Mark Turner. Dieser Mann hatte Schreckliches durchgemacht. Die Haut in seinem Gesicht war teils glatt und bis zum Zerreißen gespannt, teils faltig und vernarbt. An einigen Stellen war sie fast weiß, an anderen leuchtete sie feuerrot.
Brandmale, dachte Rose.
Als er sich dichter über sie beugte, sah sie die Adern unter der Haut durchschimmern. Sie sahen aus wie ein Netzwerk von Leitungen, die so stark unter Druck standen, dass sie jeden Augenblick explodieren konnten und die kochend heiße Flüssigkeit in ihrem Innern auf sie spritzen und sie versengen würde.
Er hatte keine Augenbrauen mehr, auch die Hälfte seines Mundes fehlte, so dass es aussah, als ob er seine Zähne andauernd fletschen würde. Und sie verstand auch, warum er eine Wollmütze trug. Als er sie kurz abgenommen hatte, hatte sie seine Kopfhaut gesehen, die genauso schlimm aussah wie sein Gesicht. Das wenige restliche Haar hatte er sich abrasiert, und so sah sein Kopf aus wie ein ärgerlicher roter Schädel.
Er erinnerte sie an eine Figur aus einem Comic, den ihr kleiner Bruder früher immer gelesen hatte. Ghost Rider, ein Dämon auf einem Motorrad mit flammendem Schädel. Die Angst, die ihr die Comicfigur damals eingejagt hatte, war nichts im Vergleich zu der, die sie jetzt empfand.
Und erst seine Stimme … sie klang kehlig und heiser, wie zerfressen, als bestünde sie nur aus Atem und Schmerz, aber gleichzeitig konnte man ein Bemühen um korrekte Aussprache heraushören. Wie ein Zombie in einem Horrorfilm, der Sprechunterricht genommen hat, weil er unbedingt einen Job im Callcenter haben will.
Ein lautes Grunzen. Rose öffnete die Augen.
Und wünschte sich sofort, sie hätte es nicht getan.
Er lag mittlerweile auf ihr, zerrte an ihrer Jeans und versuchte, ihr seine vernarbte Hand in die Hose zu schieben. Er stöhnte und ächzte immer lauter, während seine andere Hand am Bund seiner Armeehose nestelte.
Oh Gott …
Erneut machte sie die Augen fest zu und lag vollkommen still, die Arme neben dem Körper ausgestreckt, und machte die Beine so steif wie möglich.
Plötzlich fühlte sie etwas an ihrer Seite.
Ihre Handtasche.
Der Riemen hing ihr immer noch über der Schulter, er hatte sie ihr nicht abgenommen. Weil sie in den Teppich eingewickelt gewesen war, war sie nicht verlorengegangen, und jetzt lag sie direkt neben ihr. Und in der kleinen Vordertasche steckte …
Bitte, bitte, mach, dass es noch da ist … bitte, Gott, mach, dass es noch da ist …
Es war noch da.
Rose konnte ihr Glück kaum fassen. Fast hätte sie laut gejubelt und triumphierend die Faust in die Luft gestoßen. Stattdessen zwang sie sich, ganz still zu liegen, als wäre nichts passiert. Als hätte sich nicht das Geringste geändert.
Obwohl sich etwas ganz Entscheidendes geändert hatte.
Sie hatte ihr Pfefferspray gefunden.
Sie gab sich Mühe, genauso weiterzuatmen wie bisher, um den Mann nicht misstrauisch zu machen. Obwohl er vermutlich ohnehin nichts mitbekam, so wie er sich an ihr rieb und
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