Der Stalker
stöhnte und sich mit dem Verschluss ihrer Jeans abmühte.
Sie versuchte, sich von dem, was mit dem Rest ihres Körpers geschah, zu distanzieren und sich ausschließlich auf das zu konzentrieren, was ihre Finger taten. Die Spraydose ertasten. Feststellen, wo vorne und hinten war. Die Dose in die Hand nehmen. Den Finger auf den Sprühknopf legen …
Sie riss den Arm hoch und hielt ihm die Dose direkt ins Gesicht.
Drückte den Sprühknopf.
Die Wirkung trat sofort ein. Der Mann bäumte sich auf, fuhr sich mit den Händen an die Augen und begann wie wild zu reiben. Rose zögerte keine Sekunde. Sie stemmte sich vom Boden hoch und stürzte taumelnd auf die Treppe zu. Auf den Ausgang.
Aber er war zu schnell. Selbst halbblind fand er sich auf dem Boot besser zurecht als sie. Eine Hand packte ihren Knöchel und riss sie zurück. Der Griff war so stark, dass es Rose die Beine wegzog.
Sie fiel hin, landete unglücklich und spürte ein Knacken in der linken Kniescheibe. Sie schrie auf vor Schmerzen, versuchte aber trotzdem sofort wieder aufzustehen.
Zu spät. Er hatte sich auf sie geworfen.
Sie hielt immer noch die Spraydose umklammert und riss erneut den Arm hoch, aber diesmal war er vorbereitet. Er schlug ihr die Dose aus der Hand, und sie landete irgendwo weit weg am anderen Ende der Kabine in einer dunklen Ecke.
Erneut versuchte sie aufzustehen. Spürte, wie ein sengender Schmerz von ihrem Knie aus ihren Oberschenkel hinaufschoss.
Sie schnappte nach Luft.
Sah seinen bösen roten Schädel genau über sich, die Augen erfüllt von blankem Hass.
Sie hörte, wie er vor Schmerz und Wut aufheulte.
Sah die Faust, die auf sie zugerast kam.
Dann spürte sie nichts mehr.
82 Suzanne hatte sich immer noch nicht gerührt. Hatte kaum zu atmen gewagt.
Sie lag da und lauschte auf etwas, das ihr einen Hinweis darauf hätte geben können, was Julie zugestoßen war. Dieser entsetzliche Schrei. Sie konnte sich nicht erklären, was ihn verursacht hatte, aber es musste etwas Furchtbares gewesen sein.
Sie schloss die Augen, um sich ganz auf ihr Gehör zu konzentrieren.
Totenstille.
Sie atmete tief aus. Sie hatte ein paarmal nach Julie gerufen, aber keine Antwort erhalten. Irgendwann hatte sie es aufgegeben. Julie war etwas Schreckliches zugestoßen, und sie würde nie mehr von ihr hören.
Es war so verlockend, der Panik einfach nachzugeben. Zu schreien, gegen die Wände ihres hölzernen Gefängnisses zu trommeln und zu treten … so einfach … Sie hatte gespürt, wie sich all diese Gefühle in ihr aufgestaut hatten und nun wie bei einem Vulkanausbruch nach außen drängten. Bislang war es ihr gelungen, sie zurückzuhalten, sie niederzuzwingen. Panik würde ihr nicht helfen. Nicht das Geringste an ihrer Situation ändern.
Sie musste nachdenken. Herausfinden, was mit Julie passiert war. Damit ihr nicht dasselbe passierte.
Suzanne gewann die Kontrolle über ihren Atem zurück. Konzentrierte sich. Was hatte Julie gesagt?
Ich hab das untere Ende der Kiste aufgebrochen. Ich glaube, er hat sie nicht wieder richtig zugemacht, nachdem er uns rausgelassen hat. Es ist ein bisschen … eng, aber wenn ich mich … durchquetsche …
Dann mehr Knarren und Splittern …
Dann Stille.
Dann war sie draußen, hatte gelacht.
Dann der Schrei. Lang und markerschütternd.
Suzanne schüttelte den Kopf, um das Bild abzuschütteln, das sich dort festgesetzt hatte. Die Dunkelheit machte alles nur noch schlimmer. Was sie vor ihrem geistigen Auge sah, war so entsetzlich, dass keine reale Szene ihm jemals hätte gleichkommen können.
Zumindest hoffte sie das.
Sie sammelte ihre Gedanken. Das Splittern und Knarren – das war das Geräusch, als die Kiste geöffnet wurde. Julie hatte gesagt, ihr Entführer hätte sie nicht gründlich genug verschlossen.
Denk nach, denk nach …
Was war mit ihrem Gang zur Toilette? Konnte der ihr irgendwelche Anhaltspunkte liefern?
Sie ging ihn in Gedanken noch einmal durch. Der Entführer hatte die Kiste geöffnet, und sie hatte sich den Sack über den Kopf ziehen müssen. Was hatte sie gefühlt, als sie draußen gewesen war? Gehört?
Das Erste, was ihr aufgefallen war, war das knöcheltiefe Wasser gewesen. Was hatte das zu bedeuten? Keine Strömung, kein Geruch. Also kein Meerwasser. Sie waren nicht am Meer.
Irgendwann war das Wasser zu Ende gewesen, und sie war auf trockenen Boden gelangt. Ein kleines Gewässer also. Vielleicht ein Becken? Eine Grube? Betonboden – eine Art Trog. Aber wozu diente
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