Der Stalker
Tochter. »Und man ist komplett dafür verantwortlich. Man muss sich kümmern, jede Sekunde. Man hat ein Kind auf die Welt gebracht, und jetzt muss man ihm helfen zu leben.«
Sie löste ihre Hände voneinander und sah zu ihm auf.
»Entschuldigung. Das willst du sicher alles gar nicht hören.« Wieder ein Seufzen. »Da ist nämlich auch noch diese andere Sache. Das hier …« Die Worte sprudelten immer schneller. Jetzt endlich kam das, was sie die ganze Zeit hatte sagen wollen. »Ich kann … ich kann mich einfach nicht darüber freuen. Über gar nichts mehr. Da ist immer dieser Schatten über allem. Wie … ein Damoklesschwert. Du weißt schon, was ich meine. Manchmal vergesse ich es, und dann bin ich für einen Moment lang glücklich. Nur für einen kurzen Moment. Dann kann ich loslassen. Endlich wieder lachen. Aber dann fällt es mir wieder ein, und alles geht von vorne los. Und ich kann …« Ihre Hände waren ausgestreckt, die Finger gekrümmt, als wolle sie die Lösung ihres Problems aus der Luft greifen. Sie wurde leiser. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich nie etwas daran ändern wird. Dann denke ich: Das war es jetzt. So wird es ab jetzt immer sein.«
Sie sah sich um. Die Sonne war zurückgekehrt und mit ihr die Wärme, aber Marina merkte nichts davon. Ihr war kalt. Da war kein Licht, nur Dunkelheit.
»Und damit kann ich einfach nicht leben.«
Sie verstummte. Wartete auf eine Reaktion. Es kam keine. Sie fasste sein Schweigen als Ermunterung auf fortzufahren.
»Ich bin selbst schuld, das weiß ich ja. Nur ich, sonst niemand. Und …« Wieder griffen ihre Hände in die Luft. Ihre Finger bewegten sich ruhelos, als wollten sie frei sein und davonfliegen. »Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll …«
Sie hielt inne.
»Ich habe die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen. Zu Recht – es ist ja auch alles meine Schuld. Was passiert ist. Was schiefgelaufen ist – alles meine Schuld. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll, um etwas daran zu ändern. Ich muss … ich will, dass es endlich nicht mehr so weh tut. Ich muss wissen, was ich tun soll. Was das Beste ist.«
Die Tränen kamen, wie immer an diesem Punkt. Marina beugte sich vor und griff nach seiner Hand. Er ließ es zu. So saß sie, bis es Zeit war zu gehen.
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen, holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche, betupfte sich die Augen, putzte sich die Nase. »Ich komme bald wieder. Danke fürs Zuhören.«
Sie öffnete den Mund, als wolle sie noch etwas hinzufügen, schloss ihn dann aber wieder. Der Gedanke blieb unausgesprochen, Worte blieben ungesagt. Sie schüttelte den Kopf, schob sich die Sonnenbrille vor die Augen, drehte sich um und verließ das Zimmer.
»Ms Esposito …«, hallte eine Stimme über den Gang, begleitet von Schritten, die auf sie zuhielten.
Marina blieb stehen und drehte sich um. Jemand von der Pflegedienstleitung. Sie kannte die Frau, hatte nichts gegen sie, fühlte bei ihrem Anblick aber dennoch eine unerklärliche Irritation, fast Wut. Marina wartete, bis die Frau sie eingeholt hatte. Sie sah sie an, machte jedoch keine Anstalten, die Sonnenbrille abzunehmen.
Die Frau sah zu der Tür hinüber, aus der Marina soeben gekommen war. »Wie war …«
Marina holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Sagte nichts. Sie war froh, dass die Frau ihre Augen nicht sehen konnte.
Die Frau senkte die Stimme. »Ich möchte nicht … Sie kommen schon so lange hierher. Länger, als wir normalerweise erlauben würden.«
»Ich weiß.« Marinas Stimme hörte sich an wie ein rostiges Getriebe.
»Sie müssen – ich will ganz offen sein. Lange kann die Situation nicht so weitergehen. Sie müssen eine Entscheidung treffen. Sehr bald.«
Marina nickte stumm, weil sie ihrer Stimme nicht trauen konnte.
»Wenn Sie möchten, können wir vorher gerne noch ein Gespräch führen …«
»Nein. Nein, ich … es ist schon gut. Ich kann mich allein entscheiden.«
Die Frau wirkte erleichtert. »Wenn Sie meinen. Aber wir können auch –«
Marina wandte sich ab. »Ich weiß. Ich muss jetzt los, meine Tochter abholen.«
Sie eilte den Gang entlang und hinaus ins Freie. Draußen schien die Sonne, doch sie nahm sie nicht wirklich wahr. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging Marina schnell davon.
Sie musste Josephina abholen.
Sie musste eine Entscheidung treffen.
Sie musste ihr Leben wieder in den Griff bekommen.
5 »So, war es das jetzt?«
»Fast.« Detective Constable Anni
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