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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Pastore.
    »Nein, zumindest keine genaueren als im Brief an ihre Mutter. Ist sie wirklich …?«
    Er wagte das Wort »tot« nicht auszusprechen. Ihm wurde heiß, und seine Knie wurden so weich, daß er sich setzte, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.
    »Ihr Leben ist außer Gefahr … Der Arzt behauptet, es sei eine Angelegenheit von wenigen Tagen.«
    Beiden Männern war die Situation gleichermaßen peinlich. Monsieur Pastore ging fast nie aus dem Haus und hatte keinen Umgang, das erriet man an seiner Schüchternheit. Er wußte nichts über die Nacht, die seine Tochter erlebt hatte, und man hatte das Gefühl, daß er Angst hatte, nachzufragen. Zum Klavier hinüberblickend, riskierte er gleichwohl die Frage:
    »Kennen Sie Leyla schon lange?«
    Jonsac getraute sich nicht zu sagen, daß er sie erst vor drei Tagen kennengelernt hatte. Außerdem wurde er rot, denn es wurde ihm plötzlich bewußt, daß er wahrscheinlich als ihr Liebhaber, vielleicht sogar als ihr Geliebter galt und daß somit in Pastores Augen ein Zusammenhang zwischen ihm und ihrer Verzweiflungstat bestand.
    Nun war er ebenso geniert wie Monsieur Pastore. Beide hatten Angst, etwas Falsches zu sagen, und wagten sich nicht mehr in die Augen zu sehen.
    »Der Arzt sagt, sie wird bald wieder zu sich kommen«, seufzte endlich der Vater. »Sie hat eine Überdosis Veronal geschluckt, sie hat sich inzwischen aber erbrochen …«
    Man hatte ihm wohl den Zutritt zum Schlafzimmer verboten, denn er blickte fortwährend in dieselbe Richtung, als warte er schüchtern darauf, endlich eintreten zu dürfen.
    »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
    Er fragte es tonlos und wohl nur, um wieder etwas zu sagen, dann entnahm er einem Barfach eine Flasche Porto und zwei Gläser.
    »Es kommt um so unerwarteter, als Leyla immer sehr fröhlich war … Ablenkung hatte sie genug, sie fuhr jedes Jahr nach Frankreich oder in die Schweiz … Letztes Jahr hat sie die Ferien in Aix-les-Bains bei Freunden verbracht … Im Winter ist sie wieder nach Paris gefahren und hat im Louvre Vorlesungen über Kunstgeschichte gehört …«
    Er redete und redete, für sich selbst, aus Angst vor dem Schweigen, das sich zwischen ihnen einzurichten drohte.
    »Wir lassen ihr jegliche Freiheit, und sie weiß, daß ihre Freunde bei uns jederzeit willkommene Gäste sind …«
    Von Zeit zu Zeit warf er einen flüchtigen Blick zu Jonsac hinüber, und das Ergebnis schien ihn zu befriedigen.
    »Sie ist erst dreiundzwanzig … Trinken Sie, ich bitte Sie … Ich habe leider noch nichts im Magen.«
    Er zuckte zusammen und stand eilig auf. Eine Tür war aufgegangen. In ihr erschien eine Frau, eine kleine, ziemlich dicke Frau, deren fast weißes Haar zerzaust war. Sie schien ihrem Mann ein vereinbartes Zeichen zu geben.
    »Monsieur de Jonsac …« sagte dieser verlegen. Die Frau hatte verquollene Augen, zögerte und nickte dann kurz zur Begrüßung.
    »Entschuldigen Sie …« stammelte Monsieur Pastore.
    Das Ehepaar verschwand, allem Anschein nach im Zimmer des Mädchens. Zehn Minuten verstrichen. Jonsac fühlte sich so unbehaglich wie im Wartezimmer eines Arztes. Endlich kam das Dienstmädchen:
    »Wenn Sie mir bitte folgen möchten …«
    Sie ging auf Zehenspitzen, er tat es ihr nach. Als sie eine Tür aufstieß, erblickte er ein perlgrau gestrichenes Schlafzimmer, ein Bett mit blauer Decke und, auf dem Kopfkissen, Leylas Gesicht.
    Außer den Ringen unter ihren Augen wies nichts darauf hin, daß sie eben knapp dem Tod entronnen war. Ihr fahlgelbes Haar lag in dicken Zöpfen beiderseits des Gesichts auf den Kissen. Die Mutter, argwöhnisch und abweisend, stand rechts des Bettes, Monsieur Pastore links davon.
    »Wie lieb, daß Sie gekommen sind …« hauchte Leyla.
    Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können. Ihr ebenfalls nichts. Madame Pastore rückte ganz unnötigerweise das Kopfkissen zurecht.
    »Sehen Sie mich nicht an … Wenn Sie wüßten, wie ich mich schäme! …«
    Dann plötzlich:
    »Geht es Nouchi gut?«
    »Sehr gut«, stammelte er.
    »Meine Tochter ist sehr erschöpft«, bemerkte die Mutter.
    »Ich gehe jetzt … Ich …«
    »Kommen Sie mich wieder besuchen, wenn ich nicht mehr so häßlich bin?«
    »Ich verspreche es.«
    So ungefähr verlief der Besuch. Jonsac wagte nicht, sich umzusehen. Beim Weggehen mußte er noch Monsieur Pastore die Hand geben, bevor dieser die Tür hinter ihm zudrückte. Er ging an der Aufzugstür vorbei schnell die Treppe hinunter. Er wollte schon zu Fuß dem › Pera Palas‹

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