Der Stammgast
klingelte. Nouchi hob ab.
»Für dich«, sagte sie und streckte ihm den Hörer hin.
Die Stimme war ihm unbekannt, sie klang verwirrt, ängstlich, ungeduldig.
»Spreche ich mit Monsieur de Jonsac? Hier Monsieur Pastore …«
Der Name sagte ihm zunächst nichts.
»Ja, bitte?«
»Ich bin Leylas Vater … Könnten Sie bitte unverzüglich zu uns kommen … Nein, am Telefon kann ich Ihnen nichts sagen …«
Wie selbstverständlich hatte Nouchi den zweiten Hörer genommen.
»… Glauben Sie mir, es ist dringend … Hören Sie … Leyla hat versucht, sich das Leben zu nehmen … Sie hat einen Brief an Sie hinterlassen …«
Jonsac sagte zu, legte den Hörer auf und entdeckte Nouchis lächelndes Gesicht direkt neben sich.
»Habe ich es nicht gesagt!« triumphierte sie.
»Ich verstehe überhaupt nichts.«
»Sie ist verliebt, und weil sie sich schämt wegen gestern, will sie ihr Ansehen wieder aufpolieren …«
Wortlos zog er sich an, Nouchi tat daneben dasselbe.
»Kriege ich keinen Kuß?« schmollte sie, als er weggehen wollte.
Zu seiner eigenen Überraschung nahm er sie in die Arme und erdrückte sie fast. Er hatte Tränen in den Augen, ohne daß er hätte sagen können, ob Nouchi oder Leyla der Grund dafür war.
»Sollte ich nicht hier sein, wenn du zurückkommst, so besichtige ich immer noch die Wohnung …«
In den Straßen war es heiß. Die Häuser verströmten den süßlich-scharfen, für das Land typischen Geruch.
Jonsac fuhr im Aufzug in den dritten Stock eines der schönsten Gebäude von Pera. Die Wohnungstür ging auf, ehe er klopfen konnte. Ein Dienstmädchen in Häubchen und weißer Schürze bedeutete ihm, ihr zu folgen. Sie hatte gerötete Augen, ihre Hand knetete ein Taschentuch.
Die Wohnung war geräumig, wunderbar hell und luftig. Schon im Vorraum umfing einen die wohltuende Atmosphäre von Luxus und Sauberkeit.
Von einem breiten Gang aus, der als Eingangshalle diente, führten verglaste Türen zu mehreren Zimmern. Aus einem dieser Zimmer drang gedämpftes Gemurmel.
»Wenn Sie bitte einen Augenblick warten möchten …«
Er stand im Salon, den ein mächtiger Flügel beherrschte. Der Raum ging auf einen fast ebenso großen Balkon mit Blick auf das Goldene Horn hinaus. Jonsac meinte, hinter einer Tür jemanden weinen zu hören. Es klingelte, und in der Eingangshalle erschien eine Krankenschwester in Uniform, die man wahrscheinlich wie ihn telefonisch herbeigerufen hatte.
Schließlich strebten zwei Männer dem Ausgang zu. Einer von ihnen war groß und hielt den Hut in der Hand. Jonsac kannte ihn, es war der einzige französische Arzt in ganz Konstantinopel. Der Mann bemerkte ihn, tat zwei Schritte in den Salon hinein, drückte ihm die Hand und sah ihn erstaunt an, als frage er sich, was ein Dragoman hier verloren hatte.
Der andere, ein untersetzter, weißhaariger Mann mit Spitzbärtchen, war im Hausjackett. Kaum war der Arzt fort, stürzte er in den Salon.
»Monsieur de Jonsac?«
Dieser machte eine Verbeugung.
»Ich bin Leylas Vater … Weil ich wußte, daß sie spät zu Bett ging, habe ich heute früh die Anweisung gegeben, sie nicht zu wecken … Gegen ein Uhr ging das Zimmermädchen gleichwohl ins Zimmer und merkte, daß meine Tochter stöhnte … Auf dem Nachttisch lagen zwei Briefe, einer an Sie, der andere an die Mutter …«
Monsieur Pastore sprach hastig, als fürchtete er, den Faden zu verlieren.
»Im Brief an ihre Mutter, das brauche ich ja nicht zu verheimlichen, schreibt sie nur:
›Verzeih mir, Mama, aber das Leben ist wirklich nicht lebenswert.‹«
Monsieur Pastores Augen waren feucht geworden. Im Brief stand kein Wort an ihn! Als zählte er überhaupt nicht!
»Würden Sie bitte Ihren Brief lesen?«
Die Luft wurde von keinem Windhauch bewegt. Landschaftsbilder von bekannten Malern hingen in goldenen Rahmen nebeneinander an der Wand. Hinter einer Tür hörte man immer noch weinen, als Jonsac hastig den Umschlag aufriß.
Der Vater wandte den Blick nicht von ihm ab, während er las:
Monsieur,
wenn Sie diesen Brief erhalten, bin ich tot. Halten Sie mich bitte nicht für eine Schwärmerin. Ich habe lange genug gelebt, um zu wissen, was man vom Leben erwarten kann, und nach dieser Nacht habe ich die Konsequenzen gezogen. Sagen Sie Ihren Freunden, daß ich ihnen nichts nachtrage. Sie konnten es ja nicht wissen. Denken Sie hie und da an mich und seien Sie glücklich mit Ihrer reizenden, bewundernswerten Nouchi.
Leyla.
»Gibt sie Gründe an?« fragte Monsieur
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