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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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kindlich.
    »Jetzt bist du ganz gerührt«, sagte sie. »Die Männer sind immer ganz gerührt, wenn man ihnen das sagt! Dann allerdings …«
    Jonsacs schlechte Laune hatte sich verflüchtigt, und er dachte nicht mehr daran, zum Monokel zu greifen. Er wußte nicht, welche Uhrzeit und welcher Wochentag es war. Die Sonne schien ins Zimmer und ließ die gelbseidene Bettdecke funkeln.
    »Du kannst das nicht verstehen«, sagte Nouchi melancholisch. »Bestimmte Gefühle können die Männer nie verstehen …«
    Mit einem Satz war sie aus dem Bett, ihr blauer Morgenmantel wehte hinter ihr her. Sie wühlte in einem Koffer herum und brachte ein sehr graues Foto mit vergilbter Rückseite und beschädigten Ecken daher. Halb trotzig, halb stolz hielt sie es ihm hin:
    »Schau!«
    Das Bild zeigte die Fassade eines Mietshauses in einem Wiener Vorort. Das Erdgeschoß war von kleinen Läden belegt, darunter war auch eine Schuhmacherwerkstatt. Auf der Schwelle stand im Sonntagsstaat die Familie: der Vater mit Bismarck-Schnauzbart, die Mutter in karierter Schürze, davor zwei Mädchen von vierzehn und sieben Jahren.
    »Die Kleinere bin ich!« erklärte Nouchi.
    War vorhin Nouchis Fröhlichkeit in Melancholie umgeschlagen, so schlug jetzt die Melancholie in dumpfe Wut um.
    »Verstehst du jetzt, daß man die Armut hassen kann? Sie ist das Widerlichste, Scheußlichste, was es auf der Welt gibt! … Wenn du das Foto anschaust, das ein Nachbar an einem Sonntagmorgen geknipst hat, merkst du nichts. Aber ich erinnere mich genau … Es war die schlimmste Zeit nach dem Krieg … Tag für Tag gab es nichts als Zuckerrüben … Die Arbeit meines Vaters bestand darin, Holzsohlen an die Schuhe der reichen Leute zu nageln …«
    Sie riß Jonsac das Foto aus der Hand und warf es auf den Tisch, neben die Statuette. Mit der gleichen Heftigkeit zog sie den Morgenmantel über der Brust zu, dann setzte sie sich mit gefurchter Nase und den Tränen nahe auf den Bettrand.
    »Das andere Mädchen ist die Schwester, von der ich dir erzählt habe und die jetzt wahrscheinlich in Syrien ist … Meine Mutter reist mit ihr herum, sie macht den Tänzerinnen den Haushalt … Mein Vater ist tot … Er ist mitten auf der Straße plötzlich zusammengebrochen, es war Tauwetter, und sie haben ihn ganz verdreckt nach Hause gebracht …«
    Sie blickte Jonsac scharf in die Augen:
    »Du bist wohl nie arm gewesen!«
    Er getraute sich nicht zu sagen, daß er es auch gewesen war. Es durfte nicht sein, daß außer ihr noch jemand anders arm gewesen war.
    »Ich erzähle dir jetzt noch etwas anderes … Wir hatten Hunger … Meine Schwester war vierzehn … Es war Winter, schon um drei Uhr nachmittags begann es zu dunkeln … Wir gingen zusammen von der Schule nach Hause, und manchmal sprachen Männer meine Schwester an … Ich sehe noch genau die Bretterwand mit den farbigen Plakaten daran und dem verwilderten Grundstück dahinter … Ich wartete davor, und manchmal sah ich zwischen den Brettern hindurch zu … Wenn meine Schwester wiederkam, gab sie mir ein Stück Schokolade oder eine Semmel …«
    Sie sah zum Foto auf dem Tisch hinüber.
    »Hast du gesehen, was mein Vater für ein Gesicht macht … Wenn ich es mir jetzt überlege, bin ich fast sicher, daß er geahnt hat, was lief … Aber was sollte er tun? … Im Haus und überall im Viertel verhungerten Kinder … Mit ab und zu einer Tafel Schokolade konnte man überleben …«
    Es war vorbei. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen samt ihrem üblen Nachgeschmack zu verscheuchen.
    »Was hat sie danach gesagt, deine Leyla?« fragte sie, Ton und Thema wechselnd.
    »Das kalte Wasser hat sie ernüchtert.«
    »Sieh mal an! Und sie hat geweint. Und diese Männer verflucht, die …«
    »Sich hundsgemein benommen haben.«
    »Bist du verliebt?«
    »Nein.«
    »Bei der kannst du alles haben, was du willst … Verstehst du den Unterschied? … Sie ist reich, sie hat nie gehungert … Für sie ist die Liebe … Sie hat nichts anderes im Kopf … Sie träumt davon … Die ganze Zeit spielt sie mit dem Feuer, und wenn’s brennt, dreht sie durch …«
    Nouchis Tonfall verriet Sympathie und Verachtung zugleich.
    »Sie weiß eben nicht, daß es eine Handelsware ist, die man gegen Schokolade oder …«
    Sie wollte zur Statuette hinübersehen, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
    »Also, Bernard, was ist …« seufzte sie.
    Womit sie meinte:
    »Wie steht es mit dir? Wie denkst du darüber? Was hast du vor? Willst du immer noch, daß wir

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