Der Stammgast
würde, und verlor schon ein wenig die Sicherheit.
»Ich weiß nicht, was Sie von mir denken. Sie haben mich in jener Nacht in einer lächerlichen, sogar widerwärtigen Situation erlebt. Anders als Ihre Freunde bin ich Alkohol nicht gewohnt. Ich bin auch die Atmosphäre nicht gewohnt, die dort herrschte.«
»Genau an diesem Abend …« begann er.
»Lassen Sie mich ausreden! Am Tag danach habe ich mich derart geschämt, daß ich sterben wollte. Ihnen habe ich geschrieben, weil ich Zutrauen zu Ihnen gefaßt hatte. Das Leben war für mich häßlich, schmutzig geworden …«
Erregter fuhr sie fort:
»Gestern bin ich mit Ihnen zu den ›Süßen Wassern‹ gegangen. Sie haben mich geküßt. Und jetzt sitze ich in Ihrer Wohnung, wo Nouchi jeden Moment hereinkommen kann. Was ich will, ist, daß Sie sich keine falschen Vorstellungen machen. Ich habe Ihnen vertraut. Ich weiß nicht, was Sie mir sagen wollen. Aber ich möchte Sie doch davor warnen, mit mir Ihr Spiel zu treiben. Ich wäre Ihnen nicht böse, wenn Sie mir sagen würden: ›Leyla, ich habe mich getäuscht. Es ist besser, wir gehen …‹«
Jonsac, der einen roten Kopf bekommen hatte, wußte nichts Besseres zu tun, als zum Fenster zu gehen und die feuchte Stirn an die Scheibe zu drücken. Das Mädchen blieb sitzen. Sie sah den Mann nur von hinten. Sie wartete. In Jonsac stieg eine solche Wut auf, daß ihm Tränen in die Augen schossen. Er glaubte Nouchis Stimme zu hören: ›Bei Leyla mußt du das machen …‹
Dicke Regentropfen klatschten auf den Balkon, obwohl die Sonne noch nicht ganz verschwunden war. Aus der Ferne war dumpfes Donnergrollen zu hören.
»Wir trennen uns jetzt als gute Freunde, ja?«
In Leylas Tonfall schwang Angst mit. Sie stand ebenfalls auf. Sie war nervös. Und er, obwohl er sicher wußte, daß die Tränen auf seinen Wangen zu sehen waren, drehte sich um.
»Leyla! …«
Sie starrte ihn entsetzt an und stammelte:
»Sie weinen?«
Er verzog seine Lippen zu einem bitteren Lächeln, das, wie er wußte, seine Wirkung nicht verfehlen würde, wischte langsam das beschlagene Monokel ab und setzte es wieder ein.
»Warum weinen Sie?«
»Haben Sie das wirklich gedacht, was Sie eben gesagt haben?«
»Ich weiß nicht … Auf der Brücke waren Sie nicht wie sonst … Ich glaubte zu spüren …«
»Und jetzt …«
»Ich weiß nichts mehr … Ich wollte Ihnen nicht weh tun … Sie müssen mich auch verstehen … Ich bin ein Mädchen … Bestimmte Dinge machen mir angst …«
»Sie haben kein Vertrauen in mich!«
»Jetzt, glaube ich, habe ich Vertrauen.«
Ihre Hände verkrampften sich, vielleicht des Gewitters wegen, das mit unerwarteter Heftigkeit losbrach. Der Regen war schlagartig zum Wolkenbruch geworden und prasselte jetzt auf die Steinplatten des Balkons; unter der Balkontüre drang Wasser herein und bildete eine Pfütze, die bis zum Teppich des Salons reichte.
»Glauben Sie mir, daß ich Sie wirklich liebe?«
»Wenn Sie es sagen …«
»Und wenn ich schwöre, daß ich nur den einen Wunsch habe: mit Ihnen zu leben, für immer, Sie zu heiraten?«
Das Gewitter brachte auch ihn durcheinander und übertönte manchmal seine Worte. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er glaubte sogar, im Vorzimmer ein Geräusch zu hören.
»War es das, was Sie mir sagen wollten?« murmelte sie, während ein Lächeln ihr Gesicht aufhellte.
Mit dem traurigen Ausdruck und der resignierten Haltung des Unverstandenen blieb er in ziemlicher Entfernung von ihr stehen. Sie machte einige Schritte auf ihn zu.
»Bernard!« murmelte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter.
›Bei ihr mußt du das machen! Bei ihr mußt du das machen … Bei ihr mußt du das machen …‹
Er hatte ein paar Sekunden, um sich zu entscheiden.
9
»Glauben Sie immer noch, ich hätte Sie in eine Falle gelockt?«
»Das habe ich nie gesagt.«
»Sie haben es gedacht! Geben Sie es zu! Eben hatten Sie Angst und bereuten, hierhergekommen zu sein.«
Er bewunderte sich selbst für den tiefen und warmen Klang seiner Stimme, für sein Geschick, seinen Erfolg. Um das Mädchen nicht zu verschrecken und im Vorteil zu bleiben, vermied er zu große körperliche Nähe, und statt sie in den Arm zu nehmen, kraulte er ihr nur freundschaftlich die rötlichen Nackenhaare.
»Keinen Augenblick habe ich Sie für ein Mädchen gehalten, mit dem man seine Spielchen treiben kann«, fuhr er fort.
Doch jetzt platzte mit rücksichtslosem, penetrantem Geklingel das Telefon in den Raum. Leyla fuhr
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