Der Stammgast
Leyla, Sie dürfen mir nicht böse sein. Wenigstens gehören wir jetzt einander und …«
Er erstarrte, und das Wort blieb ihm im Halse stecken. Er hatte sich umgedreht und hinten im Salon Nouchi entdeckt, die neben dem grünen Vorhang, schon innerhalb des Raums stand. Ihre Augen lachten nervös, ihre Nase war spitzer denn je, und sie sah Jonsac so durchdringend an, daß er den Kopf senkte.
Sie rührte sich nicht. Vielleicht hatte sie schon lange dort gestanden. Ein Luftzug wehte ins Zimmer und blähte die Vorhänge auf.
Es war wohl Jonsacs Verstummen, das Leyla aus ihrem stillen Schmerz aufschreckte. Erst rührte sie eine Hand und wunderte sich, sie auf einer nackten Brust zu finden; dann öffnete sie die Augen und blickte eine Weile zur Decke.
Sie mußte gespürt haben, daß etwas nicht stimmte, denn sie richtete sich plötzlich auf, sah Jonsac an, erblickte Nouchi und stieß einen durchdringenden Schrei aus. Noch nie hatte Jonsac ein menschliches Wesen so schreien hören.
»Lassen Sie sich nicht durch mich aufhalten«, sagte Nouchi und ging zum Tisch, um ihre Handtasche neben die Leylas zu stellen.
Sie trug ein Kostüm und einen Hut, den sie jetzt mit einem kurzen Blick in den Spiegel abnahm, wie es eben eine Frau tut, die nach Hause kommt.
»Ich bin seit einer guten Viertelstunde hier, wollte aber das Schäferstündchen nicht stören.«
Unwillkürlich mußte Jonsac an ihre Erzählung von den Winternachmittagen in Wien denken, an ihren Nachhauseweg mit der Schwester, die den Männern hinter die Bretterwände folgte.
Nouchi hatte damals zugeschaut, und heute hatte sie es auch getan.
»Wie wär’s jetzt mit einer Tasse Tee?«
Jonsac getraute sich nicht, zu Leyla aufzuschauen, doch sie befand sich, ein wenig unscharf vor dem blaugrünen Lichtfleck des Fensters, rechts von ihm in seinem Blickfeld. Sie bewegte sich nicht. Es war unmöglich, ihre Gedanken zu erraten oder zu erahnen, was sie vorhatte. Ihr helles Kleid war zerknittert und der Haarknoten, den sie tief im Nacken trug, hatte sich gelöst.
»Hast du das Dienstmädchen zum Bäcker geschickt?«
Man hörte einen seltsam gurgelnden Laut, etwas zwischen einem Schluchzen und einem Röcheln. Er kam gleichsam aus tiefster Brust, und im selben Moment löste sich Leyla aus ihrer Erstarrung, rannte auf den Balkon hinaus, wo sie sich an die Brüstung anklammerte.
»Leyla!« schrie Jonsac und stürzte hinaus.
Vielleicht hatte er damit die Reaktion des Mädchens erst hervorgerufen oder sie beschleunigt. In Panik, wie ein in die Enge getriebenes Wild, überstieg sie so flink das Geländer, daß man kaum gewahr wurde, wie sie auf der anderen Seite verschwand.
Jonsac war unfähig weiterzugehen. Er blieb stehen, erst preßte er beide Hände an den Kopf, dann biß er sich in die Faust und stampfte wütend auf den Boden.
Man hörte nicht, wie der Körper auf dem Gehsteig aufschlug, doch schon bald schrillte die Trillerpfeife des an der Straßenecke postierten Polizisten, darauf erklangen eilige Schritte.
»Schau schnell! Schau doch!« brüllte Jonsac Nouchi an.
Er selbst getraute sich nicht hinunterzusehen. Er wollte es nicht sehen. Er war vor Entsetzen wie von Sinnen.
Nouchi war langsam auf den Balkon hinausgegangen.
»Wir müssen hinunter«, sagte sie mit normaler Stimme. »Die Leute stehen um sie herum, und einige schauen herauf.«
Mit langsamer, matter Bewegung nahm sie den Hut vom Tisch, setzte ihn auf und ging langsam zur Tür.
»Ich gehe!«
Sie wußte, daß er nicht hinuntergehen würde. Er ließ sie hinausgehen, dann lief er ihr nach und schrie, als sie schon ein Stockwerk tiefer war:
»Ihre Mutter erwartet sie bei Tokatlian!«
Eine unbestimmte Furcht ließ ihn die Wohnungstür absperren. Das Telefon klingelte wieder.
»Französische Botschaft. Spreche ich mit Monsieur de Jonsac?«
Es war die Stimme der Sekretärin, die er schon vorhin gehört hatte.
»Der Herr Botschafter läßt Ihnen ausrichten, er müsse um fünf Uhr weg und Sie sollen unverzüglich ein Taxi nehmen.«
Er hätte am liebsten geheult, doch er konnte es nicht. Er brachte nur Grimassen zustande, während er kreuz und quer durchs Zimmer lief und so viel Lärm wie möglich machte, um die Straßengeräusche nicht zu hören.
Er hatte nie Verletzte ansehen können, nicht einmal einen überfahrenen Hund. Er fühlte sich elend, und plötzlich stürzte er ins Bad und übergab sich.
Es waren zehn Minuten, vielleicht eine Viertelstunde vergangen, seitdem es passiert war. Er hatte
Weitere Kostenlose Bücher