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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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hatte bisher höchst selten welche gehabt, und wenn, dann nur im Stimmungstief oder im Kater.
    Es war alles Nouchis Schuld. Was hatte sie sich überhaupt einzumischen, sie, die keinerlei Bildung besaß, die in einer Wiener Mietskaserne aufgewachsen und in Nachtlokalen herumgetingelt war?
    Leyla hatte ihn nie so bemuttern wollen oder von oben herab behandelt. Im Gegenteil!
    ›Sie muß zu mir in die Wohnung kommen‹, schwor er sich.
    Mit diesem Entschluß verband er andere, konkretere Vorsätze. Und alles mußte unbedingt sein! Was sein mußte, mußte sein!
    »Wissen Sie, daß ich die Form der Steinmetzwerkzeuge der alten Ägypter wiederentdeckt habe? Wenn Sie mich das nächste Mal besuchen, zeige ich sie Ihnen …«
    Jonsac zahlte und ging. Es waren nur fünf Gehminuten zur Brücke. Er hatte Zeit. In den Straßen herrschte das übliche europäisch-asiatische Völkergemisch und Gedränge: Straßenbahnen, Esel, Lastenträger, Bettler. Ab und zu dazwischen in schneller Fahrt ein Luxusauto.
    War seine Ehe mit Nouchi überhaupt gültig? Sie hatten nur kirchlich geheiratet, und die Pastore waren nicht katholisch.
    Sie waren reich. Leyla war ihr einziges Kind. Das Haus am Bosporus war im Sommer angenehm, es strahlte Solidität und Sicherheit aus, und das verlockte Jonsac.
    Als unverheiratetes Mädchen trug Leyla Ungebundenheit zur Schau, aber er hatte schon erlebt, daß Mädchen, die sich weit ungebundener gebärdeten, nach der Heirat die fügsamsten Gattinnen abgaben. Wahrscheinlich würde Leyla später wie ihre Mutter aussehen, vielleicht nicht so füllig, doch genauso spießig.
    Wenn er nicht mehr seinen Lebensunterhalt verdienen müßte, würde man ihn an der Botschaft als Volontär annehmen, mit dem Titel eines Attachés, was ihm sämtliche Türen öffnen und den Diplomatenpaß verschaffen würde.
    Es berührte ihn jemand am Arm. Leyla lächelte, weil er so in Gedanken versunken war, daß er sie nicht bemerkt hatte.
    »Ich mußte zu Hause essen, weil heute früh mit dem Italienschiff Freunde aus Genua gekommen sind. Hat man Ihnen den Anruf ausgerichtet?«
    Sie trug ein strohfarbenes Seidenkleid, über den Arm hatte sie eine leichte Jacke gehängt.
    »Ich habe nicht viel Zeit, meine Mutter und meine Freunde erwarten mich nachher in der Konditorei Tokatlian …«
    Sie sah ihn aufmerksamer an und fragte:
    »Was haben Sie?«
    »Nichts.« Diese Konditorei, die ihm bei seinen Plänen dazwischenfunkte, verdarb ihm sofort wieder die Laune. Das › Tokatlian‹ war die Konditorei von Pera, in der sich nachmittags um fünf die feine Welt ein Stelldichein gab. Jonsac betrat sie nur selten, weil der Botschafter ebenfalls dort verkehrte; außerdem war sie teuer.
    »Wohin gehen wir?«
    »Ich weiß nicht«, sagte er im Gehen, die Augen unverwandt auf den Boden gerichtet.
    Er vermied den Blickkontakt, doch er spürte, wie in ihr Neugier, vielleicht auch eine Spur Besorgnis aufkamen.
    »Sie sind nicht derselbe Mensch wie gestern.«
    Er lachte gespielt bitter auf.
    »Wirklich?«
    Er hätte nicht sagen können, ob er ehrlich war oder nicht. Wahrscheinlich vermengten sich Schauspiel und echte Verzweiflung, allerdings hinderte ihn das nicht, die Reaktionen des Mädchens aufmerksamst zu verfolgen.
    »Sie haben angekündigt, daß Sie mit mir reden wollen.«
    »Ja, das habe ich. Aber jetzt frage ich mich, ob es wirklich einen Sinn hat.«
    Sie hatten die Brücke hinter sich gelassen und gingen jetzt langsam die ansteigende Straße hinauf, die durch die Unterführung von Galata nach Pera führt.
    »Was wollten Sie mir denn sagen?«
    Er blieb stehen, deutete auf den geschäftigen Betrieb um sie herum und seufzte:
    »Glauben Sie, daß die Straße der richtige Ort ist, um über ein Schicksal zu entscheiden?«
    »Wessen Schicksal?«
    ›Sie hat angebissen‹, sagte er sich. Das ordinäre Bild vom Köder kam ihm spontan, was um so verwunderlicher war, als ihn sonst alles Ordinäre anwiderte. Doch er schob die Skrupel weg: Man hätte ihn ja nicht so in die Enge zu treiben brauchen!
    »Haben Sie Vertrauen in mich?« fragte er plötzlich und sah ihr in die Augen.
    Sie zögerte einen Augenblick und murmelte dann:
    »Ja, schon.«
    »Dann bitte ich Sie, zu mir in die Wohnung zu kommen, nur für eine Stunde. Es ist viel, was ich Ihnen zu sagen habe. Unser Gespräch wird mehrere Schicksale entscheidend beeinflussen.«
    »Aber Nouchi?«
    »Nouchi zählt nicht! Es gibt sie nicht! Übrigens ist sie nicht da.«
    Leyla zögerte noch.
    »Ich weiß nicht, ob

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