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Der Staubozean

Titel: Der Staubozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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trockenen Schatten der östlichen Felswand auf den Morgen zu warten. Auf der Hochinsel kam die Morgendämmerung früh. Sie kam jeden Tag zur gleichen Zeit, und die Sonne ging immer an derselben Stelle auf. Nullaqua hatte eine Axialneigung von weniger als drei Grad. Es gab keine Jahreszeiten, keine nennenswerte Witterung, nur Gleichförmigkeit, Konstanz, physikalische und kulturelle Stasis, für immer und ewig, amen.
    Nach der letzten Mahlzeit des Tages holte Desperandum sein Netz ein. Behutsam breitete er es auf Deck aus. Dutzende harter kleiner Nuggets befanden sich darin; drei- oder vierhundert Klumpen grünen Planktons, kleine weiße Fischeiperlen, wurmähnliche verdrehte Zylinder, grünlich gesprenkelte Ovoide, abgeflachte Kugeln mit braunen Linien auf der cremeweißen Hülle. Auch ein stacheliges, glänzendschwarzes Ei, so groß wie meine Faust, war dabei.
    Desperandum kniete sich hin und begann, seinen Fang zu sortieren, wobei er Notizen in ein aufgeschlagenes Heft kritzelte. Dann kamen die ausgewählten Eier und ein Teil des Planktons in den Bottich mit Staub. Desperandum schickte einen Matrosen in die Küche hinunter, um Wasser zu holen; als der Mann zurückkam, schüttete Desperandum einige Liter über dem Staub aus.
    »Sie werden schnell ausgebrütet sein«, sagte Desperandum zu mir. »Dann werden wir sehen, was wir erwischt haben.«
    Ich nickte; Desperandum entfernte sich, jetzt, nach Sonnenuntergang, wurde es kühler. Der Staub floß jetzt anders; er kühlte sich an der Oberfläche ab und floß am Rande des Bottichs hinab. Von den schwachen Strömungen getragen, klumpte sich das Plankton am Rand des Glases zusammen.
    Irgendwie war der Behälter ein Mikrokosmos des Kraters. Zu rund, natürlich, und es fehlten die felsigen Aufwerfungen der Inseln hier und hier und hier und hier. Die Hochinsel, Arnar, Bruchfuß und Ausdauer. Die Lunglance würde sich etwa hier befinden und langsam auf den nordwestlichen Rand des Kraters zukriechen; am Rand der winzige Fleck Protoplasma, der John Newhouse darstellte, erkennbar nur durch ein Mikroskop. Eine komische Arroganz, sagte ich zu mir. Ich ging nach unten und schlief ein. Das Schiff segelte weiter.
    Am nächsten Morgen war der Staub an einigen Stellen ein wenig aufgewühlt. Desperandum war früh auf den Beinen und fischte behutsam mit einem Seihtuch aus gewebten Bindfäden in dem Bottich. Alle paar Minuten zog er eine zappelnde Elritze oder einen krabbenähnlichen Anthropoden heraus und hakte ein Ei auf seiner Liste ab. Aus dem Lautsprecher seiner Maske erklang leises Summen. Er war bei guter Laune. Mir gefielen die schwarzen Stiche auf seinem verletzten Arm nicht. Der Schnitt an seinem Hals war gut verheilt, aber sein Arm war angeschwollen und entzündet. Ich hoffte, er nahm Antibiotika. Zwischen der Zahl der Eier auf seiner Liste und der Zahl der Lebewesen, die er hatte fangen können bestand eine Diskrepanz. Das schien ihm nichts auszumachen. Er konnte kaum erwarten, jedes Tier zu fangen, indem er einfach blind mit seinem Netz herumfischte. Nachdem er dreimal denselben Fisch gefangen hatte, zuckte er gutgelaunt die Achseln und gab seine Bemühungen auf. Das bewies, daß Desperandums Frustrationsschwelle sehr hoch war, und dies überraschte mich. Ich hatte erwartet, daß er den ganzen Bottich durch ein Netz ausleerte. Offenbar befürchtete er, damit die Gesundheit der Organismen zu gefährden.
    Alles in allem hatte er sechzehn Lebewesen von achtundzwanzig Eiern gefangen. Am nächsten Tag versuchte er es erneut. Jetzt fanden sich mehr Plankton-Nuggets; ihre Sporen waren schon vorhanden gewesen, als der Staub zum ersten Mal eingefüllt worden war. Außerdem hatte sich das übrige Plankton, durch das Vorhandensein von Wasser angeregt, vermehrt. Dutzende winziger Klümpchen, nicht größer als Glassplitter, tauchten auf. Einige der größeren Nuggets fehlten. Sie waren gefressen worden.
    Desperandum gab etwas Wasser hinzu, um das Wachstum der Hauptnahrungsquelle voranzutreiben, und begann dann wieder zu fischen. Diesmal mit mehr Erfolg. Er fing zwanzig Lebewesen. Merkwürdigerweise gelang es ihm nicht, einige der früheren Organismen zu erwischen, einschließlich des Fisches, den er dreimal gefangen hatte. Es schien ihm nichts auszumachen. Schließlich war jede einzelne Kreatur in dem Gefäß völlig unter seiner Kontrolle.
    Ich stellte meine Spekulationen ein. Es ging über meine Fähigkeiten, Desperandums geistigen Zustand zu ergründen; wie alle alten Menschen hatte

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