Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Staubozean

Titel: Der Staubozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
er eine Orientierung angenommen, die von meiner so verschieden war wie die Kindheit vom Erwachsenenstadium.
    An diesem Tag töteten wir einen Wal und warfen drei Eier über Bord.
    Am nächsten Tag fing Desperandum nun fünfzehn Lebewesen. Eins von ihnen war ein Rauboktopus, der für das Verschwinden einiger Fische verantwortlich war. Desperandum nahm ihn aus dem Bottich und sezierte ihn.
    Zwölf Organismen am Tag darauf. Desperandum warf drei allesfressende Fische weg, weil er annahm, daß es sich um die Übeltäter handelte. Auf seiner Liste hatte er siebenundzwanzig der achtundzwanzig Eier abgehakt. Das stachelige glänzendschwarze Ei blieb unidentifiziert.
    Als er am Tag danach nur vier Organismen fand, wurde Desperandum ärgerlich. Er leerte den Bottich aus. Träge raschelnd floß der Staub über das Deck und unter der Reling hindurch ins Meer. Rasch griff Desperandum nach den Lebewesen, die zappelnd auf dem Deck lagen: drei Krabben, ein kleiner pflanzenfressender Oktopus und die Larve eines Staubläufers. Er runzelte die Stirn. Alle seine Gefangenen verzehrten nichts außer Plankton oder - wenn sie davon etwas bekommen konnten - die langen, verwobenen Seetangstränge, die in diesem Teil des Kraters verbreitet waren.
    Dann wandte er sich dem Bottich zu. Dort klebte mit einer staubbedeckten Saugscheibe eine kleine nullaquanische Anemone an der Glaswand.
    »Erstaunlich!« sagte Desperandum laut. »Eine Anemone. Was für ein Glücksgriff!«
    Die Anemone sah ziemlich wohlgenährt aus, wie man es auch nicht anders erwarten konnte - mußte sie doch nur einen ihrer stachelbewehrten Arme ausstrecken, um an Beute zu kommen. Sie hatte acht Arme, lange geschmeidige blaßbraune Tentakel, wie die Zweige eines Rosenstrauchs mit tückischscharfen Dornen besetzt. Die Dornen waren hohl, ebenso wie die Arme selbst; und jeder Dorn war ein vampirischer Saugschnabel. Die Arme ragten aus einem kurzen, dicken Stamm, am unteren Ende des Stamms befand sich ein schneckenähnlicher Saugfuß. An den Verbindungsstellen zwischen Armen und Stamm wuchs ein kompliziert geformtes, mehrschichtiges Gebilde, das den Blütenblättern eines Blume ähnelte. Wie bei einer Blume war es ein Geschlechtsorgan. Für ein Geschöpf ihrer Größe war die Anemone ziemlich kräftig. Auch ohne die Stütze des Staubs hingen ihre dreißig Zentimeter langen Tentakel frei in der Luft. Sie atmete durch die siebähnlichen Spitzen ihrer Arme; sie waren so dünn, daß es nicht verwunderlich war, daß sie nie bemerkt worden waren.
    Die Anemone schien durch das Fehlen des Staubs irritiert. Unentschlossen bewegte sie ihre Tentakel, bis sie einen schließlich über den Rand des Gefäßes festhakte. Dann löste sie ihre Saugverbindung zu dem Glas mit einem schwachen Plopp und zog sich geschäftig an der Glaswand hoch.
    »Staub! Schnell!« befahl Desperandum, der die Anemone mit der Fürsorge eines liebenden Vaters für sein krankes Kind beobachtete. Sofort kam ein Matrose mit einem Eimer, und Desperandum schüttete den Staub langsam in den Bottich. »Mehr, mehr!« verlangte Desperandum ungeduldig. Bald erreichte die Oberfläche des Staubs einen der langsam umhertastenden Tentakel der Anemone. Das einer Pflanze ähnelnde Tier löste seinen Griff und glitt - geradezu dankbar, wie es mir schien - in den Staub hinunter.
    Desperandum bemerkte meine Aufmerksamkeit. »Sie sind äußerst selten«, sagte er zu mir. »Ich habe gehört, daß eine letzte Kolonie von ihnen in der Bucht nordwestlich von hier lebt, aber ich habe nie eine gesehen. Kein Wunder, daß ich das letzte Ei nicht identifizieren konnte.« Desperandum lachte freundlich. Er war bei bester Laune.
    Ich hoffte, sein neues Schoßtierchen würde ihn nicht beißen. Die Art, wie es versucht hatte, aus dem Gefäß herauszuklettern, schien mir unheilverkündend. Ich haßte den Gedanken, eines Nachts aufzuwachen und seine Tentakel von meiner Kehle wegreißen zu müssen.
    Am nächsten Tag kletterte ich an Deck, nachdem ich das Frühstücksgeschirr für Dalusa liegengelassen hatte. Desperandum stand neben dem Glasgefäß und hielt eine zappelnde Sprotte über den Staub. Zögernd hob sich ein brauner, mit Zacken bewehrter Arm über die Oberfläche und wickelte sich um den Fisch. Dieser zuckte noch ein paarmal schwach und wurde dann steif. Um die Kraft der Anemone zu testen, hielt Desperandum den trockenen grauen Schwanz des Fischs fest im Griff. Und schon wand sich ein weiterer Tentakel aus dem Staub hoch; Desperandum zog seine

Weitere Kostenlose Bücher