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Der Staubozean

Titel: Der Staubozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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aufgehört, hin und her zu baumeln. Sie waren nackt und noch immer in einer nekro-erotischen Umarmung verbunden. Ihre Arme waren an den Handgelenken lose mit denen des anderen verknüpft. Irgend jemand hatte ihnen dabei geholfen. Irgend jemand hatte auch mit einem Messer die eingepflanzten Juwelen aus ihren Körpern geschnitten. Ihre tonnenförmigen Brustkörbe waren mit flachen, geschwärzten Wunden übersät.
    Den Atem anhaltend, schloß ich die Tür.
    Alle Toiletten im Haus waren verdreckt und stanken. Ich ging in mein eigenes Zimmer. Alles, was ich besessen hatte, war gestohlen, bis auf meinen besten Anzug. Der lag, die Ärmel ausgebreitet, in der Mitte meines Doppelbetts, mit einem Messer mitten durchs Herz meiner leeren Jacke an die muffige Matratze geheftet.
    Ich holte das Syncophin heraus, öffnete eine der Flaschen und nahm einen kleinen Schluck. Chemische Ekstase breitete sich in meinem Gehirn aus; mit klappernden Zähnen nahm ich die Flaschen aus meinem Koffer.
    Mit allen vier Flaschen im Arm ging ich zum Dielenschrank zurück. »Hier, Timon«, sagte ich und reichte ihm eine der Flaschen. »Tut mir leid, daß ich solange gebraucht habe.«
    Ich ging zu den Undines. Es war leicht, zwei der Flaschen in ihre steifen Hände zu stecken. »Ich werde sie nicht brauchen«, sagte ich. »Ich möchte, daß ihr beide sie nehmt.«
    Ich ging zu meinem Schlafzimmer. Ich nahm einen der leeren Ärmel und faltete ihn sanft über die letzte Flasche. »Hier, John«, sagte ich. »Du verdienst es, denn du hast so hart darum gekämpft, und auch solange. Tut mir leid, daß es so schwer zu kriegen war - tut mir leid für euch toten Leute.«
    Ich nahm meinen Koffer, verließ das Haus und schloß die Tür hinter mir.
    Ich hatte die Leere immer mit Drogen gefüllt. Jetzt konnte ich mich auf Entzugssymptome freuen und auf eine quälende Erfahrung der Bedeutung von Schmerz.
    Ich würde leben. In den Tagen, die mich dazu getrieben hatten, die Drogen zum ersten Mal zu entdecken, hatte ich Schlimmeres erlebt. Ich hegte über Drogen keine Illusionen; sie enthielten keinerlei Hauch von Romantik. Sie waren nur eine Methode, den Verstand dahin zu bringen, anders zu arbeiten. Der Verstand, das Ich, war immer noch da, wankelmütig, magisch, ganz gleich, welche freundlichen Gifte mich auch ihrem sanften Angriff unterwarfen. Ich war stark; meine Freunde waren schwach gewesen. Wir waren alle Krüppel gewesen, aber sie hatten zugelassen, daß sie von ihren eigenen räuberischen Krücken vernichtet wurden.
    Ich zog keine bitteren moralischen Lehren daraus, legte keine voreiligen Gelübde ab. Es war eben Pech, eine unglückliche Falle, die von geistlosen Konföderierten gestellt worden war. Wenn meine Freunde Strafe verdienten, dann nur für ihren Mangel an Mäßigung.
    Mäßigung bedeutete Überleben. Manchmal konnte Mäßigung nur durch einen Akt des Fanatismus erworben werden. Ich hörte auf, ehe das Flackern die Bezahlung für die Freuden eintrieb, die es mir gegeben hatte; ich entfernte mich körperlich, ehe es mich weiter in Schulden stürzen konnte. Ich würde auf einem Sternenschiff büßen.
    Ich mußte fort. Sich auf die Willenskraft zu verlassen ist der Gipfel der Dummheit; sie könnte mich nicht davon abhalten, in meine alten Persönlichkeitsstrukturen zurückzufallen. Der Rauschgiftentzug würde mich dazu bringen, den Eingeweiden des Staubwals nachzujagen, so unvermeidlich und unwiderstehlich, wie Eisen vom Magneten angezogen wird.
    Sicher war es nur eine Frage der Zeit, bis ich etwas anderes fand, das Vakuum zu füllen; Wahrheit oder Pflicht, Ehre, Schönheit, Liebe oder Weisheit, irgend etwas …
    Ich dachte darüber nach, als ich im Raumhafen auf einem Walhautstuhl saß und zwei abgemagerten Offizieren der Konföderation beim Schachspiel zusah. Irgendeine Bestimmung erwartete mich in den langen Jahrhunderten, bevor der Tod mich rief, falls er konnte. Als einen Anfang würde ich erst einmal Venedig besuchen.
     

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