Der Stechlin.
findet unser Leben langweilig und solche Chronik interessant. Ich, umgekehrt, finde solche Chronik langweilig und unser alltägliches Leben interessant. Wenn ich den Rudolf unsers Portier Hartwig unten mit seinem hoop und seinen dünnen langen Berliner Beinen über die Straße laufen sehe, so find’ ich das interessanter als diese sogenannte Pikanterie.«
Melusine stand auf und gab Armgard einen Kuß. »Du bist doch deiner Schwester Schwester, oder mein Erziehungsprodukt, und zum erstenmal in meinem Leben muß ich meine teure Baronin ganz im Stiche lassen. Es ist nichts mit diesem Klatsch; es kommt nichts dabei heraus.«
»Ach, liebe Melusine, das ist durchaus nicht richtig. Es kommt umgekehrt sehr viel dabei heraus. Ihr Barbys seid alle so schrecklich diskret und ideal, aber ich für mein Teil, ich bin anders und nehme die Welt, wie sie ist; ein Bier und ein Schnaderhüpfl und mal ein Haberfeldtreiben, damit kommt man am weitesten. Was wir da jetzt hier erleben, das ist auch solch Haberfeldtreiben, ein Stück Feme.«
»Nur keine heilige.«
»Nein«, sagte die Baronin, »keine heilige. Die Feme war aber auch nicht immer heilig. Habe mir da neulich erst den Götz wieder angesehn, bloß wegen dieser Szene. Die Poppe beiläufig vorzüglich. Und der schwarze Mann von der Feme soll im Urtext noch viel schlimmer gewesen sein, so daß man es (Goethe war damals noch sehr jung) eigentlich kaum lesen kann. Ich würde mir’s aber doch getrauen. Und nun wend’ ich mich an unsre Herren, die dies diffizile Kampffeld, ich weiß nicht ritterlicher- oder unritterlicherweise, mir ganz allein überlassen haben. Doktor Wrschowitz, wie denken Sie darüber?«
»Ich denke darüber ganz wie gnädige Frau. Was wir da lesen wie Runenschrift… nein, nicht wie Runenschrift… (Wrschowitz unterbrach sich hier mißmutig über sein eignes Hineingeraten ins Skandinavische) - was wir da lesen in Briefen vom Hofe, das ist Krittikk. Und weil es Krittikk ist, ist es gutt. Mag es auch sein Mißbrauch von Krittikk. Alles hat Mißbrauch. Gerechtigkeit hat Mißbrauch, Kirche hat Mißbrauch, Krittikk hat Mißbrauch. Aber trotzdem. Auf die Feme kommt es an, und das große Messer muß wieder stecken im Baum.«
»Brrr«, sagte Czako, was ihm einen ernsten Augenaufschlag von Wrschowitz eintrug. -
Als man sich nach einer halben Stunde von Tisch erhoben hatte, wechselte man den Raum und begab sich in das Damenzimmer zurück, weil der alte Graf etwas Musik hören und sich von Armgards Fortschritten überzeugen wollte. »Doktor Wrschowitz hat vielleicht die Güte, dich zu begleiten.«
So folgte denn ein Quatremains, und als man damit aufhörte, nahm der alte Barby Veranlassung, seiner Vorliebe für solch vierhändiges Spiel Ausdruck zu geben, was Wrschowitz, dessen Künstlerüberheblichkeit keine Grenzen kannte, zu der ruhig lächelnden Gegenbemerkung veranlaßte, daß man dieser Auffassung bei Dilettanten sehr häufig begegne. Der alte Graf, wenig befriedigt von dieser »Krittikk«, war doch andrerseits viel zu vertraut mit Künstlerallüren im allgemeinen und mit den Wrschowitzschen im besonderen, um sich ernstlich über solche Worte zu verwundern. Er begnügte sich vielmehr mit einer gemessenen Verbeugung gegen den Musikdoktor und zog, auf einer nebenstehenden Causeuse Platz nehmend, die gute Frau von Berchtesgaden ins Gespräch, von der er wußte, daß ihre Munterkeiten nie den Charakter »goldener Rücksichtslosigkeiten« annahmen.
Wrschowitz seinerseits war an dem aufgeklappten Flügel stehen geblieben, ohne jede Spur von Verlegenheit, so daß ein Sichkümmern um ihn eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Trotzdem hielt es Czako für angezeigt, sich seiner anzunehmen und dabei die herkömmliche Frage zu tun, »ob er, der Herr Doktor Wrschowitz, sich schon in Berlin eingelebt habe?«
»Hab’ ich«, sagte Wrschowitz kurz.
»Und beklagen es nicht, Ihr Zelt unter uns aufgeschlagen zu haben?«
»Au contraire. Berlin eine schöne Stadt, eine serr gutte Stadt. Eine serr gutte Stadt pour moi en particulier et pour les étrangers en général. Eine serr gutte Stadt, weil es hat Musik und weil es hat Krittikk.«
»Ich bin beglückt, Doktor Wrschowitz, speziell aus Ihrem Munde so viel Gutes über unsre Stadt zu hören. Im allgemeinen ist die slawische, besonders die tschechische Welt…«
»Oh, die tschechische Welt. Vanitas vanitatum.«
»Es ist sehr selten, in nationalen Fragen einem so freien Drüberstehn zu begegnen… Aber wenn es Ihnen recht
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