Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
bestanden, dass Ranessa angegriffen und entführt worden war. Diesen Gedanken gab er allerdings sofort wieder auf. Die Omarah hielten ununterbrochen Wache. Sie würden eine solche Gewalttätigkeit im Kloster nicht zulassen. Aber was konnte sonst geschehen sein?
Wo waren diese verfluchten Mönche? Sie mussten doch etwas gehört haben. Warum waren sie nicht da? Er erinnerte sich an Feuers Worte: »Was immer auch geschehen mag…«
»Ihr habt irgendetwas mit ihr gemacht oder zu ihr gesagt«, erklärte Wolfram zornig und anklagend. Er sprach zu den Mauern, weil sie das Einzige waren, das ihn hören konnte. »Etwas, was sie aufgeregt hat. Es ist eure Schuld, und beim Wolf, wenn dem Mädchen etwas zustößt, werde ich dafür sorgen, dass ihr dafür zahlt!«
Dann rannte er in die Nacht hinaus.
Ranessa durchstreifte das Land auf dem Berggipfel. Die Stimme erklang in ihren Ohren, immer noch in dieser unverständlichen Sprache, einer Sprache, die für ihre Ohren so süß klang wie ein Wiegenlied oder es getan hätte, wenn sie nur imstande gewesen wäre, sie zu verstehen. Sie konnte nichts sehen, taumelte über den unebenen Boden, stieß gegen Felsen. Ein paar Mal fiel sie hin und schürfte sich die Haut von Knien und Händen ab. Sie trat eine Krippe im Stall um und erschreckte die sanften Maultiere. Die Omarah wachten im Verborgenen über sie, damit sie sich selbst oder anderen bei ihrem Toben keinen schlimmeren Schaden zufügte.
Endlich brach sie erschöpft auf dem felsigen Boden zusammen und weinte. Das Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper.
»Ich habe dich enttäuscht«, sagte sie, als die Tränen getrocknet waren und das Schluchzen zu einem Schluckauf abgeklungen war. »Es tut mir Leid. Ich weiß nicht, was du von mir willst. Ich habe es nie gewusst!«
Hinter dem Berg ging die Sonne auf. Ranessa hob den Kopf, und das helle Licht traf sie direkt ins Gesicht, blendete ihre vom Weinen geschwollenen Augen. Sie blinzelte ins Licht und hob die Hand, um ihre Augen abzuschirmen. Sie entdeckte eine Gestalt, die am Rand des Steilhangs entlangging.
Ranessa konnte nicht klar sehen, sondern nur verschwommen, aber die Gestalt war klein und sah aus wie eine Zwergin, denn sie hatte breite Schultern und war kräftig und untersetzt. Die Zwergin trug ein orangefarbenes Gewand, und für Ranessa sah es aus, als hätte sie sich die Feuerfarben der Morgensonne ausgeliehen.
Die Zwergin schien sie nicht zu sehen, und Ranessa blieb ruhig. Sie schämte sich zu sehr, um etwas sagen zu können. Sie sah wie betäubt zu, wie die Gestalt direkt zum Rand des Steilhangs ging. Die Zwergin breitete die Arme aus.
Die Arme waren keine Arme sondern Flügel – Flügel aus Feuer.
Langsam stand Ranessa auf.
Wieder sprach die Stimme, und diesmal verstand Ranessa.
»Mein Kind«, sagte die Stimme geduldig und liebevoll. »Du bist heimgekommen.«
Tränen, weiche Tränen, die direkt aus dem Herzen kamen, flossen über Ranessas Wangen. Diese Tränen blendeten sie nicht. Diese Tränen enthüllten ihr die Wahrheit.
Mit einem wilden Freudenschrei breitete Ranessa die Arme aus und sprang vom Berggipfel in den Sonnenaufgang.
Wieder und wieder rief Wolfram nach Ranessa. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Wenn er sie fand, würde er sie von diesem Ort wegbringen. Er wusste nicht, was er mit ihr machen sollte, aber er würde dafür sorgen, dass niemand sie je wieder erschreckte oder ihr wehtat. Immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet. Er war ihr etwas schuldig.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Morgendämmerung war ganz nah. Licht füllte den Himmel hinter den Bergen mit Gold und Rot. Wolfram blieb stehen und lauschte und hörte etwas, das wie Schluchzen klang. Rasch eilte er in diese Richtung. Als er um eine Ecke bog, fand er sich nah dem Sims, wo die Mönche täglich ihre Übungen machten. Der Blick von diesem Sims aus war atemberaubend. Tief drunten wand sich der Fluss zwischen den steilen, hoch aufragenden roten Felsen einher. Aus dieser Höhe betrachtet wirkte der breite Fluss wie ein blauer Faden, den jemand auf rotes Tuch gestickt hatte. Wolfram hatte schon öfter auf diesem Vorsprung gestanden und sich gefragt, ob er von hier aus die Welt sehen konnte, wie die Götter sie sahen. Und wenn das der Fall war, dann würde er, wenn er sich unten am Flussufer befände, nicht im Stande sein, sich selbst vom Gipfel aus zu erblicken. Er würde nicht einmal ein Fleck sein, und dennoch wäre er da. Umgekehrt schaute er, wenn er tatsächlich
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