Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
am Flussufer stand, nach oben und konnte nicht sehen, wer sich auf dem Sims bewegte, und dennoch würde er da sein.
»Daher«, hatte er sich häufig selbst erklärt, »weiß ich, dass es die Götter gibt, obwohl ich sie nicht sehen kann. Und obwohl sie mich vielleicht auch nicht sehen können, wissen sie, dass ich da bin.«
Er fand diesen Gedanken tröstlich.
Wolfram nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und sah Feuer bei ihrem Morgenspaziergang. Er stieß ein missbilligendes Grunzen aus und entschloss sich, zu ihr zu gehen und sie zu fragen, was aus seiner Begleiterin geworden war.
In diesem Augenblick kam die Sonne hinter dem Berg hervor, ihr Licht warm und blendend. Getaucht in dieses feuerrote Licht erhob sich Ranessa hinter einem Felsen. Wolfram seufzte erleichtert auf und eilte auf sie zu. Ranessa sah ihn nicht. Sie begann, auf Feuer zuzugehen.
Wolfram eilte sich und hoffte, sie erreichen zu können, bevor Feuer sie bemerkte.
»Mädchen«, sagte er, und das Wort war süß in seinem Mund.
Ranessa stieß einen wilden Schrei aus, der ihm das Wort wieder in die Kehle zurücktrieb. Sie breitete die Arme aus und rannte auf die Klippe zu. Er brüllte ihren Namen. Ob sie ihn hörte, wusste er nicht – sie achtete zumindest nicht auf ihn. Entsetzt begann Wolfram zu laufen. Er war viel zu weit entfernt. Er erreichte das Sims gerade, als sie sich über den Rand warf.
Wolfram stieß einen wilden Schrei der Trauer aus, der von den Berggipfeln widerhallte, dann schlug er die Hände vors Gesicht.
Dann erklang eine Stimme. »Öffne die Augen«, sagte Feuer. »Öffne die Augen und sieh die Wahrheit.«
Wolfram spähte zwischen seinen Fingern hindurch. Die Gestalt der Zwergin war verschwunden. Wolframs Misstrauen wurde bestätigt. Am Rand des Simses stand ein Drache, die Flügel ausgebreitet, und genoss die Morgensonne.
Die Schuppen des Drachen glitzerten im Feuer des Sonnenlichts. Der elegante Kopf mit der länglichen Schnauze und Reihen scharfer Zähne hob sich zum Himmel. Die Augen schauten hinauf zu den Göttern. Die Flügel des Drachen waren orangefarben, und die Sonne schien durch sie hindurch wie durch Seidenvorhänge. Der lange Schwanz wand sich anmutig um den glänzenden Körper. Die Krallenfüße gruben sich tief ins Geröll. Der Kopf drehte sich auf dem langen, gebogenen Hals. Der Drache sah Wolfram aus dunklen Augen an.
Wolfram schauderte. Es freute ihn nicht zu wissen, dass er die Wahrheit über die Ordensoberhäupter erraten hatte. Er wandte den Blick ab. Er schaute nach unten, und erwartete, Ranessas verrenkte Leiche auf blutbefleckten Felsen liegen zu sehen.
Sie war nicht da. Er blinzelte, sah sich um. Er konnte sie nicht entdecken.
»Wo ist sie?«, fragte er heiser.
»Dort«, sagte Feuer und schaute zum Himmel.
Wolfram hob den Blick, um über die Berggipfel hinwegzuspähen. Ein junger Drache, orangefarben wie Flammen, kreiste in der blauen Luft. Die Schuppen des Drachen glänzten wie neu im Sonnenlicht. Die Flügel glitzerten, als wären sie immer noch feucht vom Schlüpfen. Der Drache flog ein wenig zögernd, als müsste er seine Kraft prüfen, als lernte er erst, mit seinem neuen Körper zurechtzukommen. Er kannte diesen Drachen nicht, und dennoch kannte er ihn. Als er an ihm vorbeischwebte, blickte der Drache nach unten und entdeckte ihn dort. Wolfram sah in die Drachenaugen und erkannte Ranessa.
»Du hast es nicht gewusst?«, fragte Feuer.
»Nein«, erwiderte Wolfram trostlos. Er war von Ehrfurcht und Stolz erfüllt wie ein frisch gebackener Vater, und dennoch fühlte er sich auch einsam und verloren. »Nein, wie hätte ich das wissen sollen?«
»Sie trägt das Zeichen«, sagte Feuer, »wie wir alle.«
Da lächelte Wolfram und schüttelte den Kopf. »Ist sie dein Kind, Herrin?«, fragte er demütig.
»Ja«, sagte Feuer. »Sie ist mein Kind, und sie ist nach Hause gekommen.
Junge Drachen schlüpfen nicht aus Eiern wie junge Vögel oder Reptilien. Die Drachen von Loerem legen ihre Eier in menschliche Körper, in Elfen-, Ork- oder Zwergenkörper. Wenn das Drachenkind zur Welt kommt, hat es das Aussehen des Volks der Mutter. Die Mutter stillt das Kind, das sie für ihr eigenes hält. Auch der junge Drache weiß nicht, was er ist, und hält sich für einen Menschen, einen Elf oder einen Zwerg.
Häufig erfahren es die Kinder nie«, sagte Feuer und beobachtete ihre schimmernde Tochter mit liebevollem Stolz. »Solche Drachenkinder verbringen ihr ganzes Leben unter Menschen oder Elfen,
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