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Der Stein der Wikinger

Der Stein der Wikinger

Titel: Der Stein der Wikinger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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verzerrt, alle Muskeln und Sehnen gespannt, die Augen voller Wut auf Thors unsichtbaren Wagen gerichtet, der seine Ziegenböcke mit wilden Schreien antrieb und mit holpernden Rädern durch die Wolkengebirge fuhr.
    Unaufhörlich rasten die Wellen auf das Schiff zu, erhoben sich über die Reling und stürzten donnernd über dem Deck zusammen. Schäumendes Wasser ergoss sich über die Planken und durch den Laderaum, ließ die vor Angst erstarrten Frauen und Kinder bis zum Hals in den Fluten versinken. Die Tiere rissen verzweifelt an den Leinen, einige Schafe waren bereits ertrunken und trieben mit jeder neuen Welle gegen die Bordwand. Der Wind pfiff wütend über das Schiff, zerrte an den Kleidern und den Planen, die einige der Kisten und Fässer schützen sollten und längst aus der Verankerung gerissen waren. Die Planken knarrten, als würden sie jeden Moment zerbrechen.
    Hakon beobachtete, wie Edwin von einem Brecher erwischt und übers Deck gerissen wurde, sich gerade noch rechtzeitig an der Reling festhalten konnte. Einer der jüngeren Männer wurde von der Welle über Bord geworfen und folgte Gunnhild in den stürmischen Ozean. Wer einen Eimer hatte, schöpfte Wasser, doch alle Anstrengungen waren vergeblich, denn immer wieder stürzten neue Brecher über die Bordwand. Ein Tau löste sich, und eine schwere Kiste rutschte über Deck, wurde von einer Welle erfasst und donnerte mit voller Wucht gegen einen Mann, der hilflos an der Reling kauerte. Seine Arme fielen schlaff nach unten. Zu beiden Seiten der Kiste färbte sich das Wasser blutrot, aber nur für einen Augenblick, dann rollte eine neue Welle heran und ließ das Blut verschwinden.
    »Schöpft Wasser!«, schrie Thorwald. »Macht mir bloß nicht schlapp!«
    Nur ganz allmählich wurde der Wind schwächer. Die Wellen rollten nicht mehr so wild und entschlossen gegen das Schiff an. Thor hatte sich ausgetobt und fuhr mit seinem Wagen davon. Das Rattern der Räder wurde leiser, seine Schreie verstummten. Das Schiff erreichte ruhigeres Wasser, nur noch gelegentlich schwappte eine Welle über die Reling. Ächzend erholte sich die Knorr von der Anstrengung. Die schwarzen Wolken verzogen sich und die trübe Helligkeit der arktischen Nacht senkte sich über das Meer. »Richtet den Mast auf! Setzt das Segel!«, rief Thorwald von achtern, und einige Männer, darunter Hakon und Edwin, stemmten sich vom Boden hoch und befolgten den Befehl. Sie zurrten das große Segel fest und beobachteten zufrieden, wie es sich mit Wind füllte.
    In dem leichten Regen, der dem Sturm folgte, gedachten sie der Opfer, die das Unwetter gefordert hatte. Sie übergaben die Toten, die an Bord geblieben waren, dem Meer und baten den christlichen und die heidnischen Götter, sie gebührend im Jenseits zu empfangen. Thorwald fügte ein kräftiges »Amen!« hinzu, in das die meisten seiner Leute einfielen. Sie hatten auch Vorräte verloren, aber der Verlust war nicht so groß, dass man sich Sorgen machen musste. Es gab noch genug Trinkwasser.
    Am nächsten Morgen klarte das Wetter auf, und mittags brach sogar die Sonne durch. Thorwald, der die Route schon mehrmals gefahren war, brauchte nicht einmal die Peilscheibe, um seinen Kurs zu bestimmen, segelte tagsüber nach der Sonne und orientiert sich in der kurzen Nacht am Polarstern, ließ sich von einer günstigen Strömung nach Westen treiben. Er kannte jeden Teil dieses Meeres, seine Eigenheiten und Launen, er wusste, wo das Wasser warm und wo es kalt war und welche Strömungen ihre Überfahrt begünstigten. Nur gegen Thors Launen war er nicht gefeit. Das Meer zwischen Eisland und Grünland war für die unberechenbaren Stürme bekannt, und selbst der erfahrenste Seemann konnte ihnen nicht immer entrinnen. Von Erik dem Roten berichtete man, dass er bei der Überfahrt die Hälfte seiner Schiffe verloren hatte.
    Nach drei Tagen und drei Nächten erreichten sie die leichte Dünung vor Grünland. Dunst hüllte die ferne Küste ein, aber selbst unerfahrenen Männern zeigte der Möwenschwarm auf der Backbordseite, dass die neue Heimat nicht mehr fern sein konnte. Die Seevögel balgten sich um die winzigen Fische eines mächtigen Schwarms, den zwei Delfine an die Oberfläche getrieben hatten. In eleganten Sprüngen schossen die Delfine aus dem Wasser, als wollten sie die stämmige Knorr wegen ihrer Schwerfälligkeit verspotten. Nicht weit von ihnen tauchte ein gewaltiger Pottwal aus der Tiefe und ließ seine mächtige Schwanzflosse durch das Wasser

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