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Der Stein der Wikinger

Der Stein der Wikinger

Titel: Der Stein der Wikinger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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sie ihm entgegen. Er durfte auf keinen Fall merken, wie viel Furcht in ihr war. Sie presste die Lippen fest aufeinander und schickte ein stilles Gebet zu Kitche Manitu, dachte dabei an ihr Volk, das darunter leiden würde, wenn sie ihre Angst zeigte. Ein Volk, dessen Frauen bei der kleinsten Bedrohung zu schreien anfingen, war leicht zu überfallen.
    Doch der Anführer war nicht gekommen, um sie zu töten. Seine Kriegsaxt steckte in seinem Gürtel, als er mit einer Schüssel vor sie trat. Sie blickte ihn aus großen Augen an, als er ihr den Behälter an die Lippen hielt und Wasser zu trinken gab. Sein Gesicht war unbeweglich, und er zeigte mit keinem Muskel, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Die wenigen Worte, die er sagte, verstand sie nicht. Aber sie klangen nicht unfreundlich. Dann verschwand er, und sie war wieder allein mit den Bäumen und dem Wind.
    Von den Kriegern ihres Volkes wusste sie, dass die Feinde mit den kahlen Köpfen alle mutigen Männer gut behandelten, bevor man sie an den Pfahl band und ihnen die Haut in Streifen vom Körper riss. Weibliche Gefangene nahmen sie in den Stamm auf oder töteten sie auf der Stelle. Was hatte sie getan, um wie ein Krieger behandelt zu werden? Oder hatte man etwas ganz anderes mit ihr vor? Sie blickte zur Sonne empor und stimmte ein Lied an, das sie von einer heiligen Frau ihres Clans gelernt hatte. Ihre Worte flogen mit dem Wind zu Kitche Manitu empor, der hoffentlich ein Einsehen mit ihr hatte und ihr einen Weg zeigen würde, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
    Die Zeit verging quälend langsam. Der Adler kehrte zurück und segelte mit ausgebreiteten Schwingen über die Lichtung, aus einem nahen Bach war heftiges Plätschern zu hören, ein Biber oder ein Otter. Die Schatten wurden länger. Als die Sonne hinter den Bäumen verschwand, frischte der Wind auf und trug rhythmischesTrommeln aus dem Wald heran. Die beschwörende Stimme eines heiligen Mannes schwebte zwischen den Baumkronen und vermischte sich mit dem eintönigen Gesang der Krieger. Sie verstand einzelne Worte, ohne ihren Sinn deuten zu können.
    Sobald die Sonne ganz untergegangen war, verstummten die Trommeln und der Gesang. Angespannte Stille machte sich breit, umfing sie plötzlich wie eine unsichtbare Decke, die sich immer enger um sie zusammenzog. Sie betete wieder, hörte erst auf, als das Knacken eines Astes die Stille durchbrach und die Schatten mehrerer Krieger am Waldrand auftauchten. Nicht die geschorenen Krieger, die sie gefesselt hatten. Eher gedrungene, aber kräftige Männer mit halblangen Haaren, die nur mit Lendenschurzen und Mokassins bekleidet waren. Das blasse Mondlicht ließ die Augen in ihren runden Gesichtern blitzen. Sie waren mit Pfeil und Bogen und Kriegsäxten bewaffnet und blieben abwartend stehen, bis ihr Anführer ein Zeichen gab und sie langsam auf sie zukamen.
    Sie schickte einen letzten Hilfeschrei zu Kitche Manitu empor und richtete sich mutig auf. Entschlossen, ihr Leben bis zum letzten Atemzug zu verteidigen, blickte sie den Fremden entgegen. Es war keine Feindschaft in den Gesichtern dieser Männer, eher Anerkennung und Bewunderung, und als deren Anführer sie vom Baum losband, senkten die anderen demütig den Blick und wiederholten mehrmals einige beschwörende Worte, die sie nicht verstand.
    Fassungslos erlebte sie, wie zwei Krieger sie ergriffen und auf eine mit dicken Fellen belegte Trage hoben. Sie war viel zu überrascht, um sich zu wehren. Auf einen Befehl ihres Anführers hoben sie die Trage an und trugen sie in den Wald hinein. Nicht mal einer Häuptlingstochter oder einer heiligen Frau wurde bei ihrem Volk eine solche Ehre zuteil. Noch größer war ihr Erstaunen, als sie bei einem kurzen Halt die Fesseln lösten und ihr reichlich zu essen und zu trinken gaben. Keiner der fremden Krieger beherrschte ihre Sprache oder versuchte sich durch Zeichen verständlich zu machen, doch an ihren Gesten erkannte sie, dass man sie für eine ganz besondere Frau hielt.
    Ob man sie verwechselte? Hielt man sie für eine Königin oder eine heilige Frau, die Wunder wirken konnte? Für eine Medizinfrau, die böse Geister aus dem Körper eines schwer kranken Menschen vertreiben konnte? Hatte man sie geraubt, um sie mit einem angesehenen Häuptling der Fremden zu vermählen?
    Ayasha war inzwischen klar, dass die geschorenen Krieger sie den Fremden zum Geschenk gemacht hatten. Man hatte sie an den Pfahl gebunden, damit die Fremden mit den langen Haaren sie abholten.

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