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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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einzigen Tag kann der Temperaturunterschied vierzig Grad betragen. Es ist ein hyperkontinentales Klima – rein und hart und ohne irgendwelche Zwischenstufen.« Er lächelte sie an: »Willkommen in der Mongolei!«
    Wieder schloss sie die Augen und ließ sich von der holprigen Piste wiegen. Als sie die Augen wieder aufschlug, hatten sie die Stadt erreicht. Ulan Bator war vom stalinistischen Baustil geprägt, durchzogen von breiten Verkehrsadern, die manchmal geteert, häufiger aus gestampfter Erde waren; entlang den Straßen reihten sich Monumentalbauten mit Fenstern so schmal wie Rasierklingen. Im Schatten der Riesen teilten sich eintönige und traurige kleine Wohnsiedlungen den restlichen Platz. Das alles sah nicht organisch gewachsen aus, sondern so, als wäre es in einem einzigen Arbeitsgang geplant, entworfen und gebaut worden, von Architekten, die es eilig hatten, die großen Prinzipien des sozialistischen Städtebaus in die Tat umzusetzen: Größe und Macht für Regierung und Verwaltung, Symmetrie und Wiederholung für das Volk.
    Doch die Leute auf den Straßen straften dieses alles umfassende Projekt Lügen. Viele Bewohner trugen die traditionelle deel , wie Giovanni ihr erklärte: einen bodenlangen, gepolsterten Mantel mit asymmetrischer Knopfleiste und einem Stoffgürtel um die Mitte. Andere bewegten sich zu Pferd zwischen den japanischen Autos und den wenigen schwarzen Tschaikas, die sich in der Epoche geirrt zu haben schienen. Dieser Kontrast kündete von dem Zweikampf, den das Land unausgesprochen mit sich ausfocht: Stalin gegen Dschingis Khan. Und wenn man die Risse in den Mauern neben die schillernden Gewänder stellte, bestand kein Zweifel, wer der Sieger war.
    Diane entdeckte ein großes Hotel, auf dessen Parkplatz mehrere Busse standen. »Halten wir nicht hier?«, fragte sie.
    »Nein, ich bringe Sie nicht ins Hotel. Das ist ausgebucht. Ein
    Kongress, was weiß ich. Aber keine Sorge: Ich weiß eine gute Alternative. Ich werde Sie im buddhistischen Kloster von Gandan unterbringen, außerhalb der Stadt. Die Mönche haben eigene Gästezimmer für Durchreisende.«
    Wenige Minuten später kamen sie zu einem riesigen Betonblock mit einer alten roten Umfassungsmauer. Abgesehen von dem geschwungenen Dach im reinsten chinesischen Pagodenstil hatte das Gebäude nichts Besonderes an sich. Der Innenhof hingegen war ein einziger Zauber: die steinernen Mauern mit ihrer ockerfarbenen Patina, der Boden, der eigentlich nur eine banale Betonfläche war, doch übersät von welkem Laub, das unter den Füßen raschelte wie prasselndes Feuer im Kamin; die Fensterstöcke, braun und abgeblättert, wie geheimnisvolle Bilderrahmen, die den Betrachter einluden, sich in die Geheimnisse des Klosters zu versenken. Hatte man erst das imposante Tor aus Holzbalken durchschritten, verwandelte sich der Ort binnen Sekunden in eine goldene Laube, die das Auge bezauberte und im Herzen einen funkelnden, kostbaren Sternenstaub zurückließ.
    Diane ging ein paar Schritte und entdeckte unter einem Vordach die Gebetsmühlen: riesige, senkrecht gestellte Fässer, die sich unermüdlich um ihre eigene Achse drehten. In China, an der Grenze zu Tibet, hatte sie schon einmal Gebetsmühlen gesehen – allein der Gedanke an die kleinen Zettel, die von den Gläubigen beschrieben und eingeworfen und dann in diesen Fässern gerührt, herumgewirbelt, vermischt wurden wie materialisierte Stückchen andächtiger Inbrunst, entzückte sie.
    Mönche tauchten auf, die mit den geschorenen, sanftmütigen Bonzen aus dem thailändischen Ranong nicht das Geringste gemein hatten. Sie trugen rote Kutten und Lederstiefel mit geschwungener Spitze, und obwohl sie Giovanni mit einem Lächeln begrüßten, schien es ihnen sichtlich schwer zu fallen, ihre von Natur aus finstere Miene abzulegen – die Härte von Reitern, die zu lange weitabgewandt in der Steppe gelebt haben. Endlich bedeutete ihr der Italiener mit einem Augenzwinkern, dass alles erledigt sei.
    Sie wurde in einem holzgetäfelten kleinen Zimmer untergebracht, wo sie sich gerne ihrer wiedergefundenen Einsamkeit hingab. Giovanni hatte versprochen, sich um die Genehmigungen zu kümmern, die sie brauchte, um in den Norden des Landes zu fahren. So hatte sie ihm wohl oder übel ein paar Auskünfte über den Zweck ihrer Reise erteilen müssen. Diesmal hatte sie erklärt, sie plane ein Buch über die ehemaligen sowjetischen Forschungsstätten in Sibirien und der Mongolei. Dem Intellektuellen hatte die Idee gefallen:

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