Der steinerne Kreis
demselben Schalter abgewickelt wurden, über dem der Computer des gesamten Gebäudes thronte. Durch die Fensterscheiben sah Diane zwischen ein paar Autos die ersten Reiter auf ihren Pferden. Alle trugen die traditionelle farbenfrohe, seidengegürtete Tracht.
Diane hatte nicht die geringste Vorstellung, wie es weitergehen sollte. Um Zeit zu gewinnen, tat sie es den übrigen Reisenden gleich, holte sich ein Einreiseformular und machte sich pflichtschuldig ans Ausfüllen, im Stehen, mit der Wand als Unterlage. Schon die allerersten englischen Zeilen führten ihr eine bürokratische Notwendigkeit vor Augen, die sie zu keinem Zeitpunkt bedacht hatte.
Hinter ihr fragte eine Stimme: »Sind Sie vielleicht Diane Thiberge?«
Sie fuhr herum. Ein junger Europäer lächelte sie an. Er trug einen Parka englischer Marke, eine Kordhose und Bergstiefel. Das kann kein Bulle sein, dachte Diane, nicht hier.
Sie trat einen Schritt zurück, um den Mann genauer zu mustern. Er hatte ein pausbäckiges Gesicht, kastanienbraune Locken, eine Brille mit schmalem Goldrand und einen Dreitagebart, der seine sonnengebräunte Haut betonte. Trotz des Bartes hatten seine Züge, die braune Haut, die tadellose Erscheinung eine Reinlichkeit und Adrettheit, um die ihn Diane sofort beneidete – sie selbst fühlte sich immer viel zu bleich, zu schlampig gekleidet.
Mit einem leicht gurrenden Akzent stellte er sich vor: »Giovanni Santis. Ich bin Attaché an der italienischen Botschaft, und ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, alle Europäer, die hier ankommen, zu begrüßen. Ich habe Ihren Namen auf der Passagierliste gesehen, und deshalb …«
»Was wollen Sie?«
Er schien von ihrem angriffslustigen Ton befremdet. »Na ja … Ihnen unter die Arme greifen, Ratschläge geben, nützliche Tipps«, antwortete er. »Das Land hier ist nicht direkt einfach, und …«
»Danke, aber ich komme sehr gut zurecht.«
Diane wandte sich wieder ihren Formular zu, beobachtete ihn jedoch aus dem Augenwinkel. Der Botschaftsattaché musterte seinerseits die Kampfspuren in ihrem Gesicht.
»Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?«, fragte er mit dezenter Beharrlichkeit.
»Danke. Meine Reiseroute ist perfekt geplant. Kein Problem.«
»Brauchen Sie vielleicht ein Hotel?«, wagte sich der Italiener weiter. »Einen Dolmetscher?«
Sie drehte sich um und fiel ihm ins Wort: »Wollen Sie mir wirklich helfen?«
Giovanni verbeugte sich wie ein venezianischer Edelmann.
Mit finsterer Miene schwenkte Diane ihr Formular: »Also bitte sehr: Ich habe kein Einreisevisum.«
Die Augen des Italieners weiteten sich zu einem Ausdruck reinster Verblüffung. »Kein Visum?«, wiederholte er, und dabei hoben sich seine Brauen zu zwei Rundbögen. Seine Miene war derart überrascht und so voller Unschuld, dass Diane zu lachen anfing und im selben Moment begriff, dass dieser geradezu karikatureske Gesichtsausdruck auf das Wesen ihrer künftigen Beziehung verwies.
KAPITEL 49
Giovanni nahm die schnurgerade Straße nach Ulan Bator wie ein todesmutiger Rennfahrer. In weniger als einer Stunde hatte er eine Meisterleistung vollbracht und ihr administratives Problem gelöst. Diane war inzwischen klar, mit wem sie es zu tun hatte: einem Magier, der jedes bürokratische Hindernis aus dem Weg zu räumen verstand, und zudem einem Mann, der die mongolische Sprache so geläufig beherrschte wie Italienisch und Französisch. Sie befand sich jetzt in der Obhut und Verantwortung der italienischen Botschaft – als eine Art Überraschungsgast –, und diese neue Situation störte sie keineswegs. Jedenfalls vorläufig.
Sie öffnete das Fenster und hielt das Gesicht in den Fahrtwind. Der weiße Staub der Straße dörrte ihre Kehle aus, machte ihre Lippen spröde. In der Ferne zeichnete sich die Stadt ab, flach und grau wie ein Schild, überragt von den zwei riesigen Schloten eines Heizkraftwerks.
Diane schloss die Augen und atmete tief den trockenen Wind ein. Schreiend, um das Getöse des Geländefahrzeugs zu übertönen, fragte sie: »Spüren Sie die Luft?«
»Was?«
»Es ist so … trocken!«
Giovanni lachte in seinen Parka hinein. Dann schrie er zurück: »Sind Sie zum ersten Mal in Zentralasien?«
»Ja.«
»Das nächste Meer ist ungefähr dreitausend Kilometer weit weg. Nie schafft es ein feuchter Wind, ein Passat bis hierher, um die Klimaschwankungen zu dämpfen. Im Winter sinkt die Temperatur auf minus fünfzig Grad, im Sommer klettert sie auf über vierzig. An einem
Weitere Kostenlose Bücher