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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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riesigen Schwarzweißfotografien an der Wand: Bergleute in feierlicher Pose, die Hacke in der Hand; Abraumgruben, die wie Canyons aussahen; Elektrizitätswerke, aus denen Masten mit Stromkabeln ragten. Ein Traum von Produktion und Planwirtschaft – schon das Papier der Abzüge schien vom Kohlenstaub verkrustet.
    Sie sah auf die Uhr: In Moskau war es zehn Uhr abends. In Ulan Bator drei Uhr morgens. Aber hier, in Tomsk, wie spät war es hier? Sie wandte sich an ihre unmittelbaren Nachbarn und stellte die Frage auf Englisch. Keiner verstand sie. Sie fragte andere Reisende: Sie hoben nicht einmal den Kopf aus dem Mantelkragen.
    Endlich antwortete ihr ein Greis in einem rudimentären Englisch: »Wen interessieren Zeit von Tomsk?«
    »Mich – mich interessiert es. Ich möchte gern wissen, wo ich bin.«
    Der Mann senkte den Blick und hob ihn nicht mehr. Diane sah ihren eigenen Schatten, der lang gestreckt, fadenförmig auf die Bergwerksfotos fiel. Sie setzte sich nieder und spürte auf einmal einen stechenden Schmerz in der Brust, als hätte ein Stein ihr Brustbein getroffen.
    Wieder war das Bild von Patrick Langlois in ihrer Erinnerung aufgetaucht. Seine schwarz glänzenden Augen. Seine kurzen quecksilbernen Stirnfransen. Sein Geruch nach frischer Wäsche. Eine heftige Trauer überfiel sie; sie fühlte sich allein, verwirrt, völlig verloren in diesem grenzenlosen Land. Aber noch schlimmer war die Verlorenheit in ihr selbst …
    Sie hatte das Bedürfnis zu weinen. Ihren Kummer auszuspeien. Bei dem Gedanken, dass dieser Mann sie hätte lieben können – sie! –, schien ihr sein Tod doppelt absurd, doppelt sinnlos. Denn hätte er weitergelebt, so hätte er bald gemerkt, dass Diane als Frau unerreichbar war. Seine Annäherungsversuche wären an ihr abgeglitten, ohne eine Spur zu hinterlassen – wie Wasser auf einer Benzinpfütze. Nie hätte sie auf sein Verlangen eingehen können. Nie würde sich ihr eigenes Verlangen auf jemanden richten. Ihre Sehnsucht war wie ein wildes Tier, wie Lava unter der Haut, die nirgendwo eine Öffnung fand.
    Diane starrte auf die Zeiger ihrer Uhr, die sich mitten im Nirgendwo drehten. »Spielen Sie nicht Emma Peel«, hatte Langlois gesagt. Ein Lächeln kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Nein, sie war keine Detektivin.
    Nur eine junge Frau, die sich in einem Wald von Zeitzonen verirrt hatte und die unterwegs war in einem monströsen Kontinent.
     
     
     
KAPITEL 48
     
    Es war das Licht, das sie weckte.
    Sie setzte sich auf und legte die Hand ans Fenster. Wie lange hatte sie geschlafen? Unmittelbar nach dem Start war sie in Tiefschlaf gefallen. Und jetzt war sie geblendet von der aufgehenden Sonne. Sie setzte ihre Brille auf und blickte zum Fenster hinaus, und im strahlenden Licht des Morgens sah sie, was es wohl in keiner anderen Gegend der Welt gibt, was dem Reisenden die Kehle zuschnürt, wenn er die letzten Wolken über der mongolischen Erde hinter sich lässt: die Steppe.
    Könnte die Farbe Grün lodern, hätte sie ein solches Licht hervorgebracht: ein grünes, flackerndes Feuer. Ein Licht, das aus der Erde hervorsprudelt, ein wucherndes, wimmelndes Queckengrün. Ein Glutbecken, so weit wie der Horizont, doch in seinen Zwischenräumen so nah wie ein Atemhauch.
    Mochte die Sonne noch so gnadenlos herabbrennen: Nie konnte sie eine solche Frische zerstören.
    Diane suchte nach ihrer Sonnenbrille, um das Bodenprofil dieser endlosen Weite besser zu erkennen. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie dieses maßlose Wuchern schon immer gekannt, diese Hügel, die in ihrer verdutzten Einsamkeit Bocksprünge vollführten, diesen Überschwang der Ebenen, die wie trunken von sich selbst zu ihrem ewigen Stelldichein mit dem Horizont strebten.
    Sie näherte sich dem Fenster, bis sie mit der Stirn an die Scheibe stieß. Trotz der Entfernung, trotz des Düsenlärms konnte sie im Geist knapp über dem Boden dahinfliegen und das Rascheln der Gräser wahrnehmen, das Summen der Insekten, das winzige Knistern und Sirren der Natur, wenn die Windstöße sich legen. Ja, das war ein Land, dem man lauschen musste. Wie einer Muschel. Ein Land, dessen Feinheiten alle an der Oberfläche zu greifen waren, und darunter trommelte dumpf der ferne Widerhall kurzmähniger Pferde im Galopp. Und noch tiefer vielleicht der dumpfe Herzschlag der Erde …
     
    Der Flughafen von Ulan Bator war eine Halle aus nacktem Beton, wo das Gepäck mit Kreide markiert wurde und sämtliche Ankünfte und Abflüge an ein und

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