Der steinerne Kreis
Kapitel meiner Dissertation dreht sich um die religiöse Verfolgung in den fünfziger und sechziger Jahren. Es heißt immer, die Ära Chruschtschow sei vergleichsweise liberal gewesen, aber in religiöser Hinsicht stimmt das überhaupt nicht. Tatsächlich richtete sich die Unterdrückung gerade gegen die religiösen Minderheiten: unter den Christen beispielsweise gegen die Baptisten; bei den Bewohnern der Taiga und der Tundra ging es gegen die Buddhisten und die Animisten. Chruschtschow ließ damals sämtliche Lamas und Schamanen einsperren und ihre Tempel und Heiligtümer niederbrennen.«
»Und wo ist der Zusammenhang mit den parapsychologischen Labors?«
»1992, eben im Rahmen meiner Doktorarbeit, hatte ich Gelegenheit, in den Archiven des berüchtigten Archipel Gulag zu forschen: Norilsk, Kolyma, Sachalin, Tschukotka … Kurzum – ich habe gezählt, wie viele Schamanen in den Arbeitslagern interniert waren. Es war eine öde Angelegenheit, aber ziemlich einfach, denn jeder Häftling war mit seinem Heimatort und dem Grund seiner Internierung registriert. So stieß ich bald auf eine ganz unglaubliche Sache.«
»Nämlich?«
»Von den späten sechziger Jahren an wurden sehr viele Schamanen – Jakuten, Neneten, Samojeden – verlegt.«
»Wohin?«
Wieder warf der Italiener einen Blick auf den Mann mit den gelben Haaren, der völlig reglos dasaß. »Ja, jetzt wird es brisant«, antwortete er. »Ich bin ihrer Spur gefolgt und fand heraus, dass sie keineswegs in andere Lager geschickt worden waren, sondern in Labors.«
»In Labors!«
»Ja, beispielsweise in die Abteilung 8 der Sibirischen Akademie der Wissenschaften in Nowosibirsk. Das ist ein Labor für Parapsychologie.«
Der Italiener war von seiner Spürnase sichtlich fasziniert. In seinen Brillengläsern spiegelte sich das Licht und ließ seine Augen funkeln. Beinahe flüsternd fuhr er fort: »Sie verstehen, nicht wahr? Die Parapsychologen brauchten für ihre Experimente Personen mit medialen Fähigkeiten, mit telepathischer Begabung oder paranormaler Wahrnehmung. In dieser Hinsicht war der Gulag eine regelrechte Fundgrube, denn es waren dort auch ziemlich viele Medizinmänner aus Asien inhaftiert.«
In Diane sträubte sich alles gegen diese neue Geschichte. »Wo steht geschrieben, dass diese Schamanen übersinnliche Kräfte hatten?«
»Nirgends natürlich. Und ohnehin kann man sich schwer vorstellen, dass sie den russischen Wissenschaftlern ihre Geheimnisse verraten hätten. Aber sie waren mit Trance, Hypnose und Meditation vertraut … mit allem, was man unter veränderten Bewusstseinszuständen versteht, und daher waren sie ideale Versuchspersonen für parapsychologische Experimente.«
Diane spürte das Blut aus ihrem Gesicht weichen. Sie dachte an den TK 17 und fragte sich wieder: War es denkbar, dass die Forscher an diesem Labor eine Methode gefunden hatten, um die Kräfte der Schamanen, die sie untersucht hatten, zu ergründen und sich nutzbar zu machen? »Haben Sie über diese Experimente etwas in Erfahrung gebracht?«
»Das ist einer der geheimsten Bereiche der sowjetischen Wissenschaft. Keiner der Berichte, die ich lesen konnte, erwähnt ein auch nur halbwegs vernünftiges Ergebnis. Aber wer weiß, was in diesen Labors vor sich gegangen ist? Ich hätte jedenfalls nicht in der Haut dieser Schamanen stecken wollen. Für die Russen waren sie Versuchskaninchen im wahrsten Sinn des Wortes.«
Diane stellte sich die Männer vor, die aus ihrer Heimat verschleppt, in eisigen Lagern inhaftiert und schließlich im Namen irgendwelcher obskuren Experimente missbraucht worden waren, und eine Welle von Übelkeit stieg in ihr auf.
»Im TK 17 wurden vermutlich tsewenische Schamanen benutzt, oder?«, fragte sie.
Giovanni war sichtlich überrascht: »Woher wissen Sie von den Tsewenen?«
»Ich habe mich über die Gegend erkundigt. Meinen Sie, es waren Tsewenen?«
»Äußerst unwahrscheinlich.«
»Wieso?«
»Weil vom Volk der Tsewenen seit den sechziger Jahren niemand mehr übrig ist.«
»Was erzählen Sie da?«
»Die Wahrheit. Das ist eine erwiesene Tatsache, die kürzlich von mehreren mongolischen Ethnologen bestätigt wurde. Die Tsewenen haben die Kollektivierung nicht überlebt.«
»Wie kam das?«
»In der Äußeren Mongolei wurde die Kollektivierung erst Ende der fünfziger Jahre durchgeführt. 1960 verkündete der Oberste Sowjet der tuwinischen Republik, wie sie damals hieß, es gebe keinen einzigen Privateigentümer mehr im Land. Das gesamte Gebiet
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