Der steinerne Kreis
»Verstehe«, hatte er bemerkt, »zeitgenössische Archäologie.« Und er hatte ihr sofort den Vorschlag gemacht, sie zu begleiten. Sie hatte sich zuerst geweigert, doch seine Argumente waren nicht von der Hand zu weisen: In dieser Jahreszeit war sie allein in der Wildnis verloren und hatte keine Chance, den Tokamak zu erreichen.
Gegen vier Uhr nachmittags ging sie hinunter in den Klosterhof, um die Ruhe des Ortes zu genießen. Keine Gerüche, abgesehen vom Duft nach verbranntem Gras, der von der Steppe herbeiwehte. Keine Geräusche, bis auf ein Hufgetrappel in der Ferne hinter den ockerfarbenen Mauern. Keine Gesichter, nur hin und wieder ein Mönch, der in seinem ziegelroten Umhang im Schatten der Veranda vorüberging.
Es herrschte eine verwirrende Klarheit und Reinheit. Sonne. Kälte. Holz. Stein. Nichts sonst. Die großen, senkrechten Fässer ächzten manchmal bei ihrer Drehung; sie bargen die Quintessenz aller Empfindungen. Diane lächelte. Alles hier war ihr fremd, und doch spürte sie eine erstaunliche Vertrautheit mit diesem Garten unter rotem Laub, dieser tief hängenden Sonne, die lange Schatten warf. Sie dachte an ihre Grundschulzeit zurück, an das Vordach ihrer Schule und das Glitzern der mineralischen Einsprengsel im Stein, auf die sie ihre gesamte Konzentration gerichtet hatte, während sie versuchte, mit der inneren Struktur der Welt in Verbindung zu treten. Hier fand sie dieselbe Mischung aus Härte und Vertrautheit, Kälte und Sanftheit wieder, die sie während der Schulpausen ihrer Kindheit vollkommen in Bann geschlagen hatte.
Auf einmal flogen Tauben auf. In Diane hallte das Geflatter nach, als wäre ein mit Papier bespanntes Lukenfenster jäh aufgerissen worden. Der Augenblick schien ihr so klar, so innig, dass er ihrer eigenen Erwartung, ihrem tiefsten Wunsch zu entspringen schien.
Hinter ihr ertönten Schritte.
Giovanni erschien auf der Treppe, in seinen Parka gemummt, der recht stramm saß; mit dem Handrücken fuhr er sich über den Bart. Er war ein wirklich entzückender Anblick – Diane dachte an einen kleinen Jungen, dem man zu viele Süßigkeiten gegeben hat. Und an diese schummrigen italienischen Trattorien, wo hinter Glasscheiben zu bunte Kuchen hervorleuchten. Sein ganzes Wesen erinnerte an diesen kleinen Hang zur Naschhaftigkeit …
Sie hoffte, der junge Mann werde ein paar großartige Worte sagen – die absolut richtigen Worte, die sich in die Unvergänglichkeit des Augenblicks eingraben würden; doch stattdessen legte sich der Italiener eine Hand auf den Bauch und fragte: »Hätten Sie vielleicht ein bisschen Hunger?«
KAPITEL 50
Giovanni führte sie direkt ins Refektorium des Klosters: Die Mönche, behauptete er, bereiteten die allerbesten booz der Stadt zu – eine mongolische Spezialität: mit Hammelfleisch gefüllte Teigtaschen. Den Nachmittag hatte er damit zugebracht, alle erforderlichen Genehmigungen einzuholen und die Abreise für den nächsten Morgen vorzubereiten. Um Zeit zu gewinnen, hatte er beschlossen, in einer Klosterzelle im ersten Stock zu nächtigen. Er beendete seine Erläuterungen mit einem strahlenden Lächeln: Anscheinend war er fest entschlossen, Diane nicht mehr von der Seite zu weichen.
Sie hatte nicht das Herz zu widersprechen. Die plötzliche Intimität zwischen ihnen war ihr unangenehm, irritierte sie sogar. Sie war noch immer erfüllt von Patrick Langlois – von seiner tiefen Stimme, seinem Wäschegeruch, seinen kleinen Gesten voller Humor. Die unerwartete und unabweisliche Anwesenheit des Italieners an ihrer Seite brachte ihre Erinnerungen durcheinander, was sie in gewisser Weise fast als Entweihung betrachtete.
Im Speisesaal saß sie Giovanni an der Stirnseite eines langen Tisches gegenüber. Man konnte nicht gemeinsam essen und zugleich weiter voneinander entfernt sein. Der Diplomat gab dazu keinen Kommentar ab – er schien sich mit Dianes sonderbarem Verhalten abgefunden zu haben. Stattdessen langte er mit der Hand in die Schüssel mit booz und machte sich mit fröhlichem Appetit über die Teigtaschen her. Diane hingegen weigerte sich, diese dicken, fetttriefenden Ravioli anzurühren, die ihr Hauptgang waren, und begnügte sich mit trockenem Brot.
Der Italiener plauderte ununterbrochen. Eigentlich sei er Ethnologe, erzählte er, und habe Anfang der neunziger Jahre mit einer Dissertation über die kommunistische Verfolgung der sibirischen Völker, insbesondere der Tungusen und der Jakuten, promoviert. Danach hatte er sich
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