Der steinerne Kreis
war in Planquadrate unterteilt, flurbereinigt, in Kolchosen zusammengefasst, alle privaten Produktionsmittel waren in Gemeinwirtschaft überführt worden. Die Nomaden wurden zur Sesshaftigkeit gezwungen. Ihre Zelte wurden zerstört, es wurden Häuser gebaut. Ihr Vieh wurde enteignet und auf die Kolchosen verteilt. Die Tsewenen wehrten sich mit Händen und Füßen – lieber brachten sie ihre Tiere eigenhändig um, als sie an die Partei abzutreten. Es war Winter, und die meisten sind verhungert. Ich kann es nur wiederholen: Dieses Volk existiert nicht mehr. Vermutlich hat das eine oder andere Individuum überlebt, ist aber inzwischen zweifellos akkulturiert und mit Mongolen verheiratet.«
Vor ihrem geistigen Auge sah Diane die Steppe übersät von blutigen Rentierkadavern. Ein Massaker gegen das eigene Überleben, ein kollektiver Selbstmord. Sie stellte sich die tsewenischen Frauen und Kinder vor, die verhungerten und erfroren. Jeder Schritt, den sie weiterging, brachte sie dem Epizentrum des Grauens näher.
Aber was Giovanni ihr da erzählte, stand in diametralem Gegensatz zu ihren eigenen Erkenntnissen: Sie hatte doch den Beweis, dass es die Tsewenen – und ihre Traditionen – nach wie vor gab; das zeigte allein schon die Existenz der »Lüü-Si-An«. Sie stammten aus dem Volk der Tsewenen. Sie sprachen die tsewenische Sprache. Sie waren Wächter, von Schamanen initiiert. Giovannis Informationen mussten falsch sein. Aber sie verzichtete darauf, ihm den Widerspruch darzulegen – das war nur ein weiteres Rätsel in der Reihe der Geheimnisse und Absurditäten auf ihrem Weg.
Der Italiener suchte jetzt nach einer Telefonsteckdose, um seine elektronische Post abzuholen, und seine Absicht rief in Diane eine ferne, beinahe schon verschüttete Erinnerung wach – die auf einmal an Klarheit gewann wie ein Diamant. Am Tag nach dem Massaker von Saint-Germain-en-Laye hatte Patrick Langlois vor ihrem Haus zum Abschied gesagt: »An dem Tag, an dem ich Ihnen ein Geständnis machen muss, Diane, schicke ich ein Mail.«
Vielleicht hatte er ihr tags darauf eine Nachricht geschickt, als er überzeugt war, sie habe endgültig die Flucht ergriffen? Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf Giovannis Notebook und fragte: »Kann ich mit Ihrem Computer meine Mailbox abfragen, geht das?«
KAPITEL 51
Sie setzten sich in ein Studierzimmer des Klosters. Die Wände waren mit Tannenholz getäfelt, der Boden hatte ein Parkett aus mächtigen Dielen; auch die Pulte waren aus Holz. Eine kraftlose Glühbirne warf ein dämmriges gelbes Licht über die braunen Oberflächen, und selbst in Abwesenheit der Mönche war die geduldige Konzentration zu spüren, mit der sie hier, auf diesen wenigen Quadratmetern, Tag für Tag über ihren Büchern saßen.
Sie schlossen den Computer an der einzigen Telefonsteckdose an. Höflichkeitshalber ließ ihr Giovanni den Vortritt. Wie sich zeigte, benutzten sie beide dieselben Programme und waren beim selben Server angemeldet, so dass es nicht lange dauerte, bis Diane sich eingeloggt hatte und ihre Mailbox öffnen konnte.
Eine lange Liste bekannter Namen und Abkürzungen verkündete umfangreiche Post.
Sie musste nicht lange suchen. Unter den E-Mails vom 14. Oktober trug eines den Absender Langlois. Die Nachricht war um 13.34 Uhr eingegangen, also eine Stunde, bevor sie ihn vom Krankenhaus in Nizza aus angerufen hatte. Sie hatte richtig vermutet: Langlois glaubte sie auf der Flucht und hatte ihr ein Mail geschickt, um sie über seine Entdeckungen zu informieren – in der Hoffnung, dass die Nachricht sie erreichte.
Mit klopfendem Herzen öffnete sie das Mail.
Von: Patrick Langlois
An: Diane Thiberge
14. Oktober 1999
Diane, wo stecken Sie? Seit Stunden sind Ihnen alle meine Leute auf den Fersen. Was haben Sie sich jetzt schon wieder einfallen lassen? Also: egal, wo Sie sind und was Sie sich wieder ausgedacht haben, müssen Sie wissen, was ich jetzt weiß. Sie müssen mich anrufen, wenn Sie diese Nachricht gelesen haben. Es bleibt Ihnen jetzt nichts anderes übrig, als sich mir anzuvertrauen.
Mit einem Mausklick ließ Diane den Text weiterlaufen.
Die deutschen Ermittler haben mich heute Morgen angerufen: Van Kaen hat mehrmals eine erhebliche Summe an ein Potsdamer Ehepaar überwiesen. Die Frau, Ruth Finster, unterzog sich 1997 einer Operation an den Eileitern, die sie im Krankenhaus Charité hat vornehmen lassen, und dort hat sie van Kaen kennen gelernt. Anscheinend wurde sie
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