Der steinerne Kreis
Am Abend vor dem Unfall, als sie den kleinen Jungen zu ihrer Mutter mitgenommen hatte, war ihr Stiefvater ihr bis vor die Wohnungstür gefolgt und hatte das schlafende Kind betrachtet; mit aufgewühlter Miene, fand sie; und dann war er plötzlich auf sie zugetreten und hatte sie geküsst, ohne irgendeine Vorwarnung. Sie hatte zunächst völlig verständnislos reagiert. Irgendeinen simplen Annäherungsversuch schloss sie aus – völlig zu Recht. Dieser Kuss hatte einen anderen Grund. Es war die zweite Wirklichkeit eines Mannes, der soeben seinen Wächter empfangen hatte. Eines Mannes mit einer Vergangenheit voller Schrecken, der sich hinter seinem unergründlichen Lächeln verschanzte, während er insgeheim den Marschbefehl abwartete, um in die Gefilde seiner obskuren Jugend zurückzukehren.
Charles Helikian, achtundfünfzig Jahre alt, Eigentümer mehrerer Firmen für psychologische Unternehmensberatung. Persönlicher Berater französischer Wirtschaftsmagnaten, strategischer Berater etlicher Minister und anderer Spitzenpolitiker. Ein Mann von großem Ansehen und Einfluss, der sich in den höchsten Kreisen der Macht bewegte, aber nie seinen Altruismus und seine Menschlichkeit verloren hatte.
Diane wusste nichts von seiner Vergangenheit – mit einer Ausnahme, die möglicherweise eine Verbindung zu diesem Fall darstellen konnte: Wenn Charles mit glänzenden Augen von seiner wilden Jugend erzählte, hatte er sich stets als Altlinken mit trotzkistischer Tendenz bezeichnet. Aber vielleicht war er in Wahrheit ein gesinnungstreuer Kommunist gewesen und fanatisch genug, um 1969 hinter den Eisernen Vorhang auszuwandern, wie Philippe Thomas? Helikian war schlau genug, eine Halbwahrheit zuzugeben und damit allen, die sich etwa für seine Vergangenheit interessierten, den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Sie konnte ihn sich gut vorstellen, wie er jung und schlacksig im Mai 68 auf den Barrikaden stand und seinen Zorn hinausbrüllte. Sie konnte sich auch vorstellen, dass er in der Zeit Philippe Thomas kennen gelernt hatte – auf politischen Versammlungen oder am Institut für Psychologie der Universität von Nanterre. Vielleicht hatten die beiden nach dem Scheitern des Pariser Aufstands ihrer Frustration mit einem tollkühnen Projekt Luft gemacht: sich im Herzen des roten Kontinents niederzulassen. Vielleicht teilten sie auch dieselbe Leidenschaft für paranormale Phänomene und hatten die Hoffnung, ihre Studien in der UdSSR vertiefen zu können.
Nach und nach fügte sich ein Bild zusammen. In der Sowjetunion angelangt, waren die beiden Überläufer Mitarbeiter am parapsychologischen Institut des TK 17 geworden. Sie hatten an den Experimenten teilgenommen, hatten diesem Kreis von Männern angehört, die auf der Suche nach dem Unmöglichen waren.
Diane hatte in ihrer winzigen Zelle kein Licht gemacht. Vollständig angekleidet war sie unter das Daunenbett gekrochen und hatte sich eingerollt, die Knie an die Brust gedrückt. Seit mehr als drei Stunden lag sie so da und dachte nach. Und ihre Überzeugung festigte sich. Sie war getäuscht worden, manipuliert und missbraucht von ihrem Stiefvater, der in ihr das ideale Opfer gefunden hatte. Die perfekte Mutter für seinen Wächter.
Sie versuchte die übrigen Ereignisse seit Luciens Ankunft in Paris in das Bild einzuordnen. Aus einem ihr unbekannten Grund waren Philippe Thomas und Charles Helikian heute Feinde: Deshalb hatte Thomas versucht, Helikians Boten aus dem Weg zu schaffen – damit er das Datum der Verabredung nicht erfuhr und das Treffen am Tokamak also verpasste. Aber warum? Stellte Charles eine Gefahr für Thomas dar? Und falls er ebenfalls eine paranormale Fähigkeit besaß, worin bestand sie? Diane war sich jetzt sicher, dass es ihr Stiefvater gewesen war, der sich mit dem Dritten im Bunde, mit Rolf van Kaen, in Verbindung gesetzt hatte, damit er eine Akupunkturbehandlung vornahm. Sie sah Bündnisse und Rivalitäten zwischen den übrigen Labormitarbeitern entstehen – aber der Grund blieb ihr verborgen.
War Charles Helikian noch am Leben?
Wenn ja, war auch er auf dem Weg zu dem steinernen Ring?
Das war am leichtesten zu überprüfen. Diane setzte sich im Bett auf und warf einen Blick auf die Uhr. Die phosphoreszierenden Zeiger standen auf drei Uhr morgens. In Paris war es also acht Uhr abends.
Sie stieg aus dem Bett und tastete sich zur Wand. Sie fand ihr Satellitentelefon. Immer noch im Dunkeln richtete sie den Apparat auf das kleine nachtblaue Quadrat des
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