Der steinerne Kreis
Operation bei vollem Bewusstsein vorzunehmen. So schnitten sie mir im wachen Zustand den Bauch auf. Ich spürte das Messer, das mir ins Fleisch fuhr, sah, wie mein Blut auf die Kittel und an die Wände spritzte, und dann verlor ich die Besinnung. Als ich wieder aufwachte, zwölf Stunden später, lagst du neben mir in einer Plastikwiege. Ich wusste noch nicht, dass ich durch diese Operation steril geworden war, aber hätte ich es gewusst, ich hätte vor Freude gejubelt. Wäre ich in dem Moment nicht zu schwach gewesen, um auch nur einen Finger zu rühren, hätte ich dich mit aller Kraft auf den Steinboden geschleudert.«
Diane erschauderte bei den Worten ihrer Mutter. So also war sie in die Welt getreten: durch ein Tor aus Blut und Hass. Das war zumindest eine Neuigkeit, die sie selbst betraf: Sie war die Tochter zweier Ungeheuer – Sybille Thiberge und Philippe Thomas. Sie empfand eine merkwürdige Genugtuung. Denn durch das Chaos dieser schrecklichen Offenbarungen sah sie nur eine Wahrheit: Sie war der Degeneration ihrer Eltern entronnen. Sie war durch ihre genetische Disposition hindurchgeschlüpft wie durch einen Nebelschleier. Neurotisch, schrullig, labil, verrückt – das mochte alles zutreffen; aber auf keinen Fall hatte sie irgendeine Ähnlichkeit mit diesen beiden Bestien.
Unterdessen setzte ihre Mutter ihren Bericht fort.
»Zwei Monate später, im Herbst 1969, brachen wir in die Mongolei auf. Ich lernte die absolute Kälte kennen. Ich entdeckte einen grenzenlosen Kontinent, den man vierundzwanzig Stunden lang durchqueren konnte, ohne je etwas anderes zu sehen als immer nur denselben Wald, ohne irgendeine Abwechslung oder gar einen Menschen. Die Bahnhöfe mit ihren Betonwänden, die vom Frost gesprungen waren, sahen aus wie Militärlager. Alles war kakifarben, feindselig, voller Uniformen und Kalaschnikows. Alles schien durch Telegrafenkabel und Stacheldraht zusammengehalten. Ich hatte das Gefühl, in ein endloses Straflager einzudringen.
Ich erinnere mich noch an das Geräusch der Eisenbahnwaggons, die aneinander prallten, und an das ewige Rattern der Räder auf den Schienen. Es war wie ein stählernes Atmen, das meinen eigenen Atem weitertrug. Ich war selbst eine Frau aus Stahl geworden, ich bestand aus einer erbarmungslosen Legierung – dem Metall der Folterwerkzeuge, die in meinem Leib herumgewühlt hatten, und dem Metall, das Philippe benutzte, um mich Nacht für Nacht zu demütigen. Ein Metall, das ich jetzt immer in mir trug, um mich zu verteidigen, vor ihm und vor den anderen. Ich empfand nur noch ein unauslöschliches Bedürfnis nach Rache. Und ich wusste – das wusste ich dank meiner hellseherischen Fähigkeiten: In der tiefsten Taiga würde es mir gelingen, meinen Rachedurst zu stillen.«
KAPITEL 69
Die kalten Neonlampen vermochten die beißende Kälte nicht zu mildern. Diane fühlte ihre Gliedmaßen starr und taub werden. Würde sie bis zum Ende der Geschichte durchhalten? Bis zum Morgengrauen?
Mawriski und Sacher waren völlig reglos. Sie nahmen die Rede Sybille Thiberges auf, als lauschten sie einer Prophetin. Sie standen da mit ernster Miene wie zwei Statuen, allein die Augen funkelten unter den bereiften Mützen hervor. Diane musste an die steinernen Tierfiguren denken, die vor chinesischen Tempeln Wache halten.
Ihre unselige Mutter setzte ihre Rede fort.
»Als wir hier ankamen, hatten die parapsychologischen Forschungen an diesem Labor bereits eine perverse Richtung eingeschlagen. Thomas war von der Grausamkeit der Vorgänge auf Anhieb hingerissen, ich hingegen sah darin nur einen weiteren Schritt auf dem Weg zu meinem Unglück. Aber ich beobachtete es mit kalter Gleichgültigkeit. Erst als sie die tsewenischen Schamanen verhafteten, beschloss ich zu handeln.
Innerhalb von zwei Jahren hatten sich die Machtverhältnisse zwischen den anderen Forschern und mir völlig umgekehrt. Trotz ihres Wahns, trotz ihrer Grausamkeit waren sie mir einer nach dem anderen verfallen. Ich war diejenige, die ihnen Französisch beibrachte. Ich war diejenige, die sich ihre Geständnisse anhörte, wenn sie betrunken waren. Und ich war es, die ihnen ein bisschen Zärtlichkeit schenkte. Sie beteten mich an, sie verehrten mich und achteten mich mehr als alles in dieser Hölle.«
Diane stellte sich die slawischen Folterknechte vor, und ihre Mutter erschien ihr wie eine wahnsinnige Gorgo.
»Ich konnte sie schließlich davon überzeugen, dass ihre blutrünstigen Methoden nirgendwohin
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