Der Stern von Yucatan
kompliziert genug, doch was sie für ihren Vater empfand, war völlig verwirrend. Ihre Mutter war ihm immerhin all die Jahre treu geblieben. Ihr Vater umgekehrt jedoch nicht. Vielleicht hatte er sogar Dutzende Kinder gezeugt. Sie wollte nicht über ihn und seine Untreue nachdenken. Sie wollte nicht …
Lorraine konnte später nicht sagen, wann sie einschlief. Als sie aufwachte, war es Morgen, und die Sonne strahlte vom Himmel. Sie öffnete die Augen und blinzelte gegen die Helligkeit. Jack hatte die Augen ebenfalls geöffnet. Lange sahen sie einander nur an, als müssten sie erst begreifen, dass sie beide noch lebten. Der Drang, sein Gesicht zu berühren, wie sie es zuvor getan hatte, war überwältigend. Sie hätte ihn gern in die Arme genommen und an sich gedrückt.
Sie wollte ihm gestehen, wie viel Angst sie gehabt hatte, dass er sterben könnte, und dass es ihr unmöglich gewesen wäre, mit dieser Schuld zu leben. Sie wollte ihm sagen, dass er trotz seines verwegenen Äußeren ein ehrenhafter und guter Mann war.
Ein Mann, den ich zu lieben beginne.
Doch sie sagte ihm nichts von alledem.
Stattdessen flüsterte sie mit unsicherer Stimme: “Guten Morgen.” Sie bemühte sich, ihre Erleichterung und Rührung zu verbergen. “Wie fühlen Sie sich?”
“Etwa so, wie Sie es erwarten.”
“So schlimm?”
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. “So schlimm. Und was ist mit Ihnen?”
“Ich bin okay.” Ihr schmerzten die Muskeln an Stellen, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass es dort Muskeln gab. Aber schließlich war sie es auch nicht gewöhnt, aufrecht zu schlafen.
“Die Schusswunde”, sagte er rau, “wie schlimm ist sie?”
“Schlimm genug.” Sie wollte ihn nicht anlügen. “Aber nicht annähernd so kritisch, wie es hätte sein können. Die Kugel steckt noch. Sie zu entfernen, hätte zu viel Schaden angerichtet. Sie hatten schon so eine Menge Blut verloren.”
“Die Kugel steckt noch?” Er zog die Brauen hoch. “Bedeutet das, in Zukunft schlagen die Metalldetektoren am Flughafen an?” Er schenkte ihr ein geradezu ansteckendes Lächeln.
“Schätze, das müssen Sie selbst herausfinden.” Er sah ihr einen Moment in die Augen. Dann hob er einen Arm und presste seine Hand an ihre Wange. “Danke”, flüsterte er. Es war eine zärtliche, unbeschreiblich warmherzige Geste. Sie legte ihre Hand über seine und blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie wünschte, ihm irgendwie sagen zu können, wie sehr sie seinen Mut und seinen Einsatz bewunderte. Dass sie ihm dankbar war für seine Hilfe, wo er es doch mit Leichtigkeit hätte ablehnen können, sie mitzunehmen. Sie schloss kurz die Augen und wünschte, diesen Moment für immer bewahren zu können.
Während seiner Fieberträume hatte er nach einer anderen Frau gerufen. Eine Frau, die eine wichtige Rolle in seinem Leben spielte – oder gespielt hatte.
Sie erwog kurz, ihn nach Marcie zu fragen. Und sie überlegte, ob es nicht besser war, den Eindruck zu korrigieren, sie sei verheiratet. Andererseits war es für sie beide vielleicht besser, wenn er glaubte, sie habe einen Ehemann in Louisville.
Die Gefühle füreinander waren intensiv und die Situation sehr schwierig. Eine mögliche Affäre hätte keine Zukunft. Und ehe sie einander nur Kummer bereiteten, hielt sie lieber Distanz und nahm bedauernd ihre Hand von Jacks. Er schien zu begreifen, was in ihr vorging, und ließ den Arm sinken.
“Ich habe Carlos angeschossen”, erzählte sie ihm in der Hoffnung, die gute Nachricht würde ihn aufmuntern.
“Haben Sie den Mistkerl umgelegt?”
“Nein, aber ich hab’s versucht. Ich habe sechsmal geschossen”, erklärte sie stolz.
Er lächelte.
“Aber ich fürchte, ich habe nur seinen Oberarm gestreift.”
“Hoffentlich hat er mehr Schmerzen als ich.”
“Das hoffe ich auch.”
“Wie haben Sie uns von Pucuro weggebracht?”
Lorraine wandte sich ab. “Das wollen Sie nicht wissen.”
“Und wie ich das wissen will.”
“Das ist eine Geschichte für einen anderen Tag”, entschied sie. Plötzlich verschleierten wieder Tränen ihren Blick, obwohl sie sich bemühte, sie zu unterdrücken. “Schauen wir mal, ob ich es Ihnen etwas bequemer machen kann.”
“Raine.”
“Nenn mich nicht so.” Sie wischte sich schniefend mit einer Hand die Augen.
“Du weinst”, sagte er, ohne auf ihren Einwand einzugehen.
“Tue ich das?”
“Ja.”
“Dann sind das … Freudentränen.”
“Freudentränen?”, wiederholte
Weitere Kostenlose Bücher