Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
Blick zum Laubbaldachin
hob, erschien er ihr so weit entfernt wie das Himmelszelt
selbst. Faraday erlebte in diesem Wald das gleiche wie
damals Aschure, als sie zum ersten Mal nach Awarinheim gelangte. Die Weite, das Licht und die Musik an
diesem Ort überwältigten sie.
Die Edle konnte endlich ihren Blick von den Wundern
des grünen Daches lösen und schaute nach unten. Überall
wuchsen zu Füßen der Bäume zierliche Sträucher mit
exquisiten Blüten. Und zwischen den Stämmen ergingen
sich Wesen, wie die junge Frau sie selbst im Traum noch
nicht gesehen hatte. Igel mit Hörnern? Pferde mit Flügeln? Stiere aus purem Gold? Vögel mit Diamantenaugen? Kleine, äußerst bunte Drachen hüpften von Ast zu
Ast, und eine Familie blau- und orangegefleckter Panther
ergötzte sich im nahegelegenen Fluß. Nixen und Wassergeister huschten scheu zwischen den Zweigen hin und
her, und im kristallklaren Wasser ließen sich Fische mit
silbernen Flossen erkennen.
Als Faraday ihre Wanderung wieder aufnahm, veränderten sich die Formen und Farben und hielten neue
Wunder für sie bereit. Gletscher und Gebirgszüge, Ozeane und Gärten, Höhlen und Wanderdünen – in dieser
neuen Welt ließen sie sich alle Seite an Seite finden.
Und beim dritten Schritt fand sie sich im Wald wieder,
der sich freute, sie wiederzusehen, und ihr Liebe und
Geborgenheit schenkte.
»Was kann ich für Euch tun?« fragte Faraday leise.
»Was soll ich für Euch tun?«
Das Licht verwischte, und eine Lichtung breitete sich
vor ihr aus. Darauf stand ein hübsches Häuschen mit
weißen Wänden, gelbem Dach und roter Tür inmitten
eines Gartens, der von einem weißen Jägerzaun begrenzt
wurde. Irgend etwas an dem Garten erschien dem Mädchen merkwürdig, aber bevor sie genauer hinsehen konnte, öffnete sich schon die rote Tür, und eine unglaublich
alte Frau trat heraus.
Sie trug einen Umhang, so rot wie die Tür, hatte aber
die Kapuze zurückgeworfen, die ihren kahlen Schädel
sonst bedeckte. Die papierdünne Haut spannte sich über
ihre Wangen. Darunter waren überall die Knochen zu
erkennen. Die hohe Stirn ließ auf Klugheit und Wissen
schließen. Den Eindruck vollkommener Häßlichkeit milderten aber die Augen. Tiefe Seen von Violett, die fast
kindlich in die Welt blickten.
Die Uralte streckte zitternd eine Hand aus. »Willkommen, Kind der Bäume. Schaut Euch ruhig meinen
Garten an. Wollt Ihr eine Weile bleiben?«
Faraday wollte schon zustimmen, als sich das Licht
um sie herum plötzlich smaragdgrün färbte. Bevor sie
noch etwas tun konnte, flog sie schon aus der zauberhaften Welt der Wunder hinaus, wieder hinein in die
schmerzliche Wirklichkeit der Welt von Karlon.
»Tut mir leid, daß ich Euch zurückrufen mußte«, sagte
Yr in schroffem Ton, »aber die Mittagsstunde ist längst
vorüber, und die Königin muß sich dem Hof zeigen.«
Als die Energie von Faraday abließ, wimmerte Ramu und
löste sich langsam aus der Embryonalstellung, in der er
sich seit fünf oder sechs Stunden befunden hatte.
Die beiden Wächter hatten recht damit gehabt, daß die
Macht der Edlen ihn stets erreichte. Nur hatte er sie noch
nie so stark wie eben gespürt. Mit jedem Schritt, den
Faraday tiefer in den Wald hinter dem Hain hineingegangen war, hatte er stärkere Schmerzen bekommen, bis
ganz Awarinheim von seinen Schreien widerhallte.
Der Magier wußte, was mit ihm geschah. Aber der
Übergang durfte nicht so gewaltig und so schmerzhaft
vonstatten gehen.
Und war er nicht noch viel zu jung für die Verwandlung? Er hatte doch hier noch so viel zu tun, so viel zu
tun.
»Faraday«, flüsterte er, »Baumfreundin, wo steckt Ihr?
Was tut Ihr gerade? Wohin geht Ihr?«
4 A N DER
G
UNDEALGAFURT
Sie würden sich am letzten Tag des Frostmonds treffen,
an der Gundealgafurt am Nordra. Sobald der Fluß das
Verbotene Tal verlassen hatte, weitete sich sein Bett, und
er strömte langsamer und ruhiger. Auf der Höhe des Tailem-Knies war er dann flach genug, um von einem Reiter
durchquert zu werden.
Axis lagerte mit seinem Gefolge am südlichen Ausläufer der Urqharthügel, ein paar Meilen von der Gundealgafurt entfernt. Er führte etwas über tausend
Berittene mit sich, hauptsächlich Schwert- und Lanzenkämpfer, und dazu drei Pelotone von Aschures Bogenschützen nebst zwei Geschwadern der Luftarmada. Der
Hauptteil seiner Armee war in Sigholt zurückgelassen
worden. Von der Festung wurden einige Patrouillen
zum Sperrpaß und in die Urqharthügel
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