Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
noch
immer nicht gefundene Zecherach in seinem Bewußtsein
auf, und Freierfall und sein Vertrag mit der Torwächterin.
Belial dachte an den bevorstehenden Zweikampf und
an seine Frau. Er hatte Kassna heute nachmittag am Ufer
des Gralsees geheiratet, und die Entscheidung, die sie mit
ihrem Ehegelöbnis besiegelt hatten, kam ihm immer noch
richtig vor. Wie würde ihr Leben aussehen, nachdem die
Prophezeiung sich endlich erfüllt hatte? Würden sie in
seine Heimat Romstal ziehen? Oder in eines der Herrenhäuser, die Kassna geerbt hatte? Mit einem Mal durchzog
ihn leise Trauer. Hoffentlich war Kassna auch wirklich
die Richtige für ihn.
Rivkah und Magariz dachten an Axis und an den
Zweikampf, dessen Zeuge sie in wenigen Stunden werden würden. Axis’ Mutter hatte nicht mitfahren wollen,
wußte aber, daß ihr nichts anderes übrigblieb. Schließlich
hatte sie beide Rivalen zur Welt gebracht, und heute
nacht würde sie zusehen müssen, wie einer von ihnen
diese wieder verließ. Rivkah hoffte, daß Bornheld dieses
Los zufallen würde. Sie war froh, Magariz bei sich zu
haben. Endlich mußten sie ihre Liebe nicht länger ge
heimhalten.
Als das Boot über den ruhigen See glitt, schaute Rivkah ins Wasser. Sie nahm die Hand ihres Liebsten,
drückte sie und nickte in Richtung der Fluten. Tief am
Grund des Gewässers strahlte eine Doppelreihe Lichter
wie Laternen, die eine Straße markierten. Der Kahn bewegte sich senkrecht über diesem Weg. An manchen
Stellen bildeten die Lichter Kreise oder Pfeile, die Rivkah an die Tätowierungsmuster in den Gesichtern der
Rabenbunder erinnerten. Die Wasserlampen leuchteten
so freundlich und traut, daß Rivkah kaum der Versuchung widerstand, ins Wasser zu springen und zu ihnen
hinabzutauchen. Als Mädchen war sie oft über den See
gerudert oder gesegelt, auch des Nachts, doch nie zuvor
hatten diese Lichter geschienen.
Jack, Ogden und Veremund war das unterseeische
Leuchten natürlich nicht entgangen, aber das stellte sie
nicht wie Rivkah vor ein Rätsel. Da unten liegt es, dachte
der Schweinehirt, und die beiden Mönche stimmten ihm
in Gedanken zu. Da unten liegt unser Schicksal.
Alle drei wußten, was sie bald zu sehen bekommen
würden, und sie hofften, daß in dieser Nacht der letzte
Schwertstreich im Kampf zwischen Axis und Bornheld
geführt werden würde, damit dieser Krieg, der Achar
zerrissen hatte, endlich ein Ende fände.
Aber warum, dachte Veremund, nehmen wir all dies
auf uns, wenn der fünfte Wächter immer noch nicht gefunden ist? Ogden drückte die Rechte seines Freundes,
und Jack legte ihnen von oben die Hände auf die Schultern. Wir müssen vertrauen, ermahnte er sie. Denn Vertrauen ist alles, was uns bleibt.
Arne dachte an Axis und an Verrat. Daran, wie jemand
hinterrücks zustoßen und wie man den Rücken des Kriegers schützen könnte. Manchmal, wenn er einen Blick
auf seinen Befehlshaber warf, glaubte er schon, einen
Dolch zwischen seinen Schulterblättern zu erkennen.
Andere Male war ihm so, als seien Axis’ Hände mit Blut
bedeckt – doch von wem es stammte, wußte er nicht zu
sagen. Der Offizier sah sich immer wieder um. Fuhr der
Verräter hier mit ihnen mit? Wer von ihnen könnte ein
Mörder sein?
Im Heck des Boots saßen Sternenströmer und Abendlied. Beide fühlten sich alles andere als glücklich. Ihre
Flügelspitzen ließen sie im angenehm kühlen Wasser
treiben. Der Zauberer dachte an seine Mutter. Wie hatte
sie sich darüber gefreut, auf die Geschichte der Seen zu
stoßen, und wenig später war sie tot gewesen, noch bevor
sie das Bändchen hatte lesen können. Das Bild von Morgensterns zerquetschtem Kopf kam ihm immer wieder in
den Sinn. Und er grübelte über Wolfstern nach, der sich
in irgendeiner Tarnung zwischen ihnen aufhalten mußte.
Aber in welcher?
Abendlied dachte an Freierfall. Ein ganzes Jahr lang
hatte sie darum gerungen, ihn aus ihren Gedanken zu
verbannen. Dazu hatte sie sogar Belial verführt, in einer
Nacht auf Sigholt und bei den letzten Beltidenfeiern.
Doch weder das eine noch das andere Mal hatte ihr etwas
eingebracht, trotz Belials glühender Leidenschaft. Heute
nacht schien ihr die Erinnerung an ihren ermordeten Vetter näher denn je zu sein. Laßt mich allein, Freierfall, bat
sie, damit ich ohne Euch weiterleben kann. Gebt mein
Herz frei, und kehrt zurück zu den Sternen, wohin Ihr
gehört.
Jorge saß Schulter an Schulter mit dem gelassen wirkenden Häuptling und dessen sechs Kämpfern, die Axis
begleiteten. Während der
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