Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
Weise, so über
alle Maßen schwer zu singen. Die Sternentanzenergie,
die dafür benötigt wurde, ließ sich nur schwer steuern,
und nur wenigen Zauberern war es bislang gelungen, mit
diesem Lied segensreich zu wirken.
Während Axis Dornfeder in den Armen hielt, konzentrierte er sich ganz auf das Genesungslied. Eine eigenartige Weise mit nur sehr wenig Melodie, aus gehauchten
Tönen und Trillern, und dabei ebenso bezwingend wie
herrlich. Seine Hände fuhren dabei sacht über den Körper
des Freundes und wischten das viele Blut fort.
Belial und der Fürst sahen sich bedeutungsvoll an. Sie
waren Zeuge geworden, wie Faraday dieses Lied für Axis
gesungen hatte. Aber ihr Vortrag ließ sich in keiner Weise
mit dem machtvollen Gesang des Kriegers vergleichen.
Faraday hatte ihre ganze Kraft aufwenden müssen, ihre
Hände in Axis’ Wunden getaucht und das zerrissene
Fleisch sanft überredet, sich wieder zusammenzufügen.
Dem Sternenmann hingegen schien alles viel leichter zu
fallen, so als wisse er ganz genau, was er tun müsse. Seine
Hände schwebten geradezu über die Wunden, und wenn
sie weiterwanderten, hatten diese sich bereits geschlossen.
Einen Moment verharrten sie über Dornfeders offenem
Bauch, und Axis’ Gesang schwoll noch mehr an. Als sie
sich dann der nächsten Stelle zuwandten, sah der Leib des
Ikariers so aus, als sei er höchstens von einem Sonnenstrahl gestreift worden. Und dann hing auch der Arm, der
zuvor nur noch von einigen wenigen Sehnen gehalten
worden war, wieder fest und ganz an der Schulter.
Der Krieger umfaßte nun behutsam den Kopf des
Freundes und bewegte ihn sanft hin und her. Und das
Lied verging leise.
Dornfeder öffnete langsam die Augen.
»Willkommen daheim«, sagte Axis nur, und Abendlied brach in hemmungsloses Schluchzen aus. Aschure
kniete sich neben die Freundin hin und legte ihr einen
Arm um die Schultern.
»Ganz ruhig«, flüsterte sie Abendlied zu und fragte
sich, um wen sie am meisten weinte: um Dornfeder, um
sich selbst oder um Freierfall?
Axis hob den Kopf und sah seine Schwester an.
Abendlied schluckte die Tränen hinunter und erwiderte seinen Blick.
»Wo ist der Rest der Staffel?« Der Krieger hatte die
Einheit vor drei Tagen losgeschickt, um sich ein Bild von
der Lage in Hsingard und an der Front bei Jervois verschaffen zu können.
»Tot.«
Nur noch fassungsloses Gemurmel war zu hören.
»Wer hat Euch angegriffen, Abendlied?«
»Ein Greifvogel«, flüsterte sie kaum hörbar, aber laut
genug für die Brücke, die wieder ihr »Weh uns!« anstimmte.
»Wir wurden von einem Greifen angegriffen.«
9 A BENDLIEDS
E
RINNERUNGEN
Als Dornfeder das Bett wieder verlassen durfte, konnte er
sich an keine Einzelheiten des Angriffs mehr erinnern.
Vage hatte er noch im Gedächtnis, seine Staffel zu einem
Aufklärungsflug über den Süden des Herzogtums Ichtar
geführt zu haben. Aber was sie dort erkundet hatten oder
was seine Einheit östlich von Hsingard praktisch aufgerieben hatte, war ihm vollkommen entfallen. Jetzt stand
der junge Ikarier in Rivkahs Gemach und suchte in seiner
Erinnerung nach den kleinsten Anhaltspunkten, mit denen er Abendlied helfen konnte.
Rivkah und Axis saßen auf beiden Seiten des Bettes,
in dem Abendlied lag. Die Mutter hielt die Hand ihrer
Tochter. Nach allen Schicksalsschlägen, die Rivkah in
ihrem Leben erlitten hatte, war sie immer davon überzeugt gewesen, daß Abendlied das zufriedene und friedliche Leben führen würde, das ihr selbst verwehrt worden
war. Aber dann hatte ihre Tochter nicht nur den Liebsten
verloren, sondern lag jetzt auch noch zerschunden und
schwerverwundet in ihrem Bett. Sie hatte die Flügel unter dem Rücken zusammengefaltet und die violetten Augen geschlossen. Die Brust hob sich kaum beim
Atemholen. Natürlich würde sie die Verletzungen überleben und auch körperlich wieder vollständig genesen,
aber auf bislang unbekannte Weise schien ihre Seele weit
schwereren Schaden genommen zu haben.
Ein Greif.
Rivkah erschauerte bei der Vorstellung und ließ ihre
Blicke durch den Raum schweifen. Aschure stand neben
Axis und hatte die Hand auf seine Schulter gelegt, während ihr Blick auf der jungen Ikarierin ruhte. Der Sternenmann hatte seine Schwester nicht heilen können.
Vom Sternentanz erhielt er zwar die Macht, Sterbende
und Totgeweihte ins Leben zurückzurufen, aber gegen
weniger schwere Verwundungen ließ sich mit seiner
zauberischen Energie wenig ausrichten.
In einer Ecke des Raums packte
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