Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
Grauen über diese Szenen. Was die Toten und
Sterbenden gedacht oder gerufen hatten, oblag nicht seinem Einfluß. Er vermochte nur den Moment ihres Todes
heraufzubeschwören, um alle daran teilhaben zu lassen.
Ihn selbst quälten die Schreie und geflüsterten Worte
mindestens ebenso sehr wie die Bürger der Stadt. Rivkah
und Aschure hielten ihn am Arm, um ihn zu stützen.
»Ich ertrage es nicht mehr!« keuchte Axis und gab den
Zauber frei. Im nächsten Augenblick war der Ring der
Geschundenen auch schon verschwunden. Nur die
Schreie der Sterbenden hallten noch nach und blieben im
Gedächtnis der Menschen in der Stadt lebendig.
In den Straßen der Stadt weinten die Menschen, und
auf den Mauern stellte so mancher seinen Speer oder
Bogen ab, um sich von einem Kameraden trösten zu
lassen.
Der Krieger atmete tief durch und richtete sich wieder
gerade auf. »Mir geht es gut«, versicherte er den beiden
Frauen, und zögernd ließen sie ihn los. »Aschure«, sagte
Axis dann, »jetzt kommt alles auf Euch an. Nehmt den
Bogen, ich setze mein ganzes Vertrauen in Euch.«
Die Schützin nickte, und er wandte sich wieder an die
Stadt: »Kulperich, wie Ihr feststellen konntet, beherbergt
Ihr einen Schwerverbrecher in Euren Mauern. Ich bitte
Euch, mir ihn und seine Offiziere auszuhändigen. Ihr
habt die Schreie der Ermordeten gehört. Sie verlangten
von mir, sie zu rächen. Und nichts anderes kann und will
ich tun.«
»Nein!« brüllte der Graf, verwundert darüber, noch eine so starke Stimme zu besitzen. »Fenwicke, ich bin Euer
Graf und Landesherr, deswegen seid Ihr mir zu Gehorsam verpflichtet. Ich befehle Euch, mir zuzuhören. Der
da«, er zeigte hinunter auf Axis, »vermag gar nichts gegen uns auszurichten. Hinter diesen starken Mauern befinden wir uns in Sicherheit. Irgendwann wird er die
Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen einsehen und abziehen. Bürgermeister, ich gebiete Euch, seinen Worten kein
Gehör mehr zu schenken!«
»Ihr irrt Euch, Graf!« rief der Krieger hinauf. »Ich habe Kulperich und die Bürger von Arken bisher nur gebeten, mir zu helfen, denn mein Gram und meine Rache
treffen nicht sie. Im Gegenteil wünsche ich ihnen das
Allerbeste, und ich habe nicht vor, gegen sie zu kämpfen.
Doch sollte Euch dies gewiß sein, Bürgermeister: Wenn
Ihr nicht mit mir zusammenarbeiten wollte, zwingt Ihr
mich zum Kampf. Und laßt Euch gesagt sein, daß ich
diese Stadt durchaus zu bezwingen vermag!«
Jetzt deutete er auf die andere Frau an seiner Seite.
»Ich gebiete über Bogenschützen, wie Ihr sie noch nicht
gesehen habt. Sie können jeden Mann, jede Frau und
jedes Kind innerhalb der Mauern treffen. Diese Schützen
sind nicht auf ungehinderte und ausreichende Sicht angewiesen, um mit tödlicher Sicherheit ihr Ziel zu finden.
Nicht weit vom Tor steht ein Karren beladen mit Körben
voller Obst. Obenauf liegt eine überreife Melone. Die
soll das Ziel sein. Und jetzt gebt gut acht.«
Aschure, schaut mit meinen Augen. Seht Ihr, was der
Adler erblickt?
Ein Bild vom Stadtinneren Arkens entstand vor dem
geistigen Auge der jungen Frau.
Vertraut mir, Liebste, und verlaßt Euch auch auf das,
was der Adler erspäht. Der Karren steht dicht hinter dem
Haupttor. Habt Ihr ihn schon entdeckt?
Sie nickte nur.
Dann zielt wohl.
Wie in Trance hob Aschure den Bogen. Sie zielte über
die Länge des Pfeils, doch was sie vor sich sah, waren
nicht die Stadtmauern Arkens, sondern die dicke, überreife Melone hoch oben auf dem Obstkarren.
Vertraut mir und vor allem Euch selbst.
Die Schützin ließ den Pfeil von der Sehne schnellen,
und alle hinter den Zinnen verfolgten mit ihren Blicken
seine Flugbahn. Das Geschoß sauste hoch über die Mauer, fiel dann steil herab und landete mitten in der Melone,
die in einem Regen von Saft und rotem Fruchtfleisch
zerplatzte.
»So könnte es jedem einzelnen in Arken ergehen,
Bürgermeister. Ich will Euch nicht drohen, denn meine
Rache richtet sich ja nicht gegen Euch, sondern gegen
den Mann, der da neben Euch steht. Gebt ihn heraus.«
Ich danke Euch, Aschure.
Burdel wehrte sich und schrie, aber Fenwicke ließ sich
nicht erweichen. Viel mehr als der Pfeil hatten ihn die
Schreie der Gemarterten überzeugt, die der Graf auf dem
Gewissen hatte. Wenn dieser Fürst schon derart bedenkenlos in Skarabost gewütet hatte, wie lange würde es
dann dauern, bis er sich auch gegen sein eigenes Volk in
Arkness wandte? Nein, da händigte man ihn doch lieber
gleich Axis Sonnenflieger aus.
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