Der Sternenwald
befand sich dort. Sie wusste es. Sie fühlte es.
Die Residenz des Designierten badete in hellem Licht und schien vorgeben zu wollen, ein angenehmer Ort zu sein. Nira fragte sich, welche ihrer anderen Kinder in der Dobro-Stadt lebten und in einem Kollektiv aufwuchsen, immer wieder untersucht und getestet von ildiranischen Spezialisten verschiedener Geschlechter. Oder waren sie vielleicht nach Ildira gebracht worden, um dort wie Trophäen dem Weisen Imperator vorgeführt zu werden?
Erstaunt sah Nira, wie eine kleine Silhouette vor dem größten Fenster erschien, ein Kind, klein genug, um in Osira’hs Alter sein zu können. Das Herz pochte ihr bis zum Hals empor, und sie trat noch näher an den Zaun heran. Nira konzentrierte sich, erweiterte ihr Selbst und suchte damit nach der schwachen Verbindung, die früher zwischen ihr und dem Weltwald bestanden hatte. Wenn sie doch nur in der Lage gewesen wäre, einen Weltbaum zu berühren… irgendeinen Baum! Sie wünschte sich nichts sehnlicher als einen Kontakt mit ihrer Tochter, ihrem eigenen Fleisch und Blut.
Nira schloss die Hände um die Zaundrähte, und es war ihr gleich, ob sie sich dabei verletzte. Prinzessin! Konnte jenes Kind wirklich ihre Tochter sein? Wenn sie doch nur eine Möglichkeit gehabt hätte, Osira’h zu sehen, ihr eine Nachricht zu schicken, ihr die Wahrheit zu sagen…
Aber das Prickeln einer Antwort blieb aus. Selbst wenn es ihr gelungen wäre, tatsächlich eine telepathische Verbindung herzustellen – vermutlich hätte Osira’h gar nichts damit anfangen können. Trotzdem freute sich Nira nur darüber, die Silhouette gesehen zu haben. Es war wenigstens ein Anfang!
29 DOBRO-DESIGNIERTER
Das Halbblut-Mädchen war bemerkenswert, noch talentierter und intelligenter, als es sich der Designierte erträumt hatte. Dieses Kind mochte durchaus imstande sein, zwischen Ildiranern und Hydrogern eine mentale Brücke zu bauen, die die beiden Völker ebenso miteinander verband wie die Seelenfäden des Thism alle Ildiraner.
Wenn Osira’h dieses einzigartige Ziel erreichte, so hatten sich all die Anstrengungen über Generationen hinweg gelohnt. Diesem Mädchen mochte es gelingen, das Reich zu retten, die ildiranische Zivilisation, alles.
In der gut erleuchteten Residenz sah das Mädchen seinen Mentor an und lächelte strahlend, dazu bereit, alles zu tun, was er von ihm verlangte. Osira’h war schön, unschuldig und perfekt, ein glänzender Sonnenstrahl direkt aus der Sphäre der Lichtquelle. Ihre Klugheit ging weit über das für ihr Alter normale Maß hinaus und Udru’h vermutete, dass er nur einen Teil ihrer Fähigkeiten kannte. Vermutlich galt das auch für sie selbst. Es gab noch viel zu entdeckten und er hoffte, genau die Dinge zu finden, die das Ildiranische Reich brauchte.
Als zweiter Sohn des Weisen Imperators hatte Udru’h immer hart gearbeitet und die notwendigen Dinge erledigt, von denen sein Bruder Jora’h nichts wusste. Der Erstdesignierte glitt unbekümmert durchs Leben und achtete kaum auf die Vorteile seines Rangs. Der Dobro-Designierte war nicht eifersüchtig auf Jora’h und er strebte keineswegs danach, an seiner Stelle Erbe des Prismapalastes zu werden. Er dachte vor allem an das, was nötig war, mit einer an Emotionslosigkeit heranreichenden Kühle. Udru’h ging jenen Dingen nach, die er für erforderlich hielt, auch wenn sie manchmal sehr unangenehm sein konnten.
Erneut sah er zu dem Mädchen, das am großen Fenster stand und in die Nacht hinausblickte, so aufmerksam, als spürte es etwas dort draußen in der Dunkelheit.
Als er den Namen des Kinds dachte, drehte es sich zu ihm um. Osira’h hatte große Augen und fedriges goldenes Haar. Die Jochbeine waren hoch, das Kinn stark. Die adlige Abstammung gab ihm etwas Zartes und Würdevolles. Der Designierte glaubte, eine gewisse Ähnlichkeit mit Jora’h zu erkennen – und ein exotisches Flair, das auf die Gene der grünen Priesterin zurückging. In den Augen des Mädchens gab es ein sonderbares inneres Licht – zu der Farbe von rauchigem Topas, die Osira’h von ihrem Vater geerbt hatte, kam das dunkle Braun ihrer Mutter.
»Du denkst erneut an mich«, sagte sie leise und doch deutlich. Osira’h war erst fünf Jahre alt, aber ihre überlegenen Gene und die intensive Ausbildung und Indoktrination hatten sie weitaus reifer werden lassen als andere Kinder in ihrem Alter. Dieses Mädchen träumte nie davon, am Nachmittag zu spielen.
»Fühlst du meinen Stolz?«
Osira’h lachte.
Weitere Kostenlose Bücher