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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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die vom Trinken gerötet waren, und hatte das Bedürfnis, das Vertrauen des Mannes zu gewinnen. Er wunderte sich auch gleichzeitig, wie vielfältig er empfinden konnte. Einerseits konnte er sich dem Glauben annähern, andererseits verlor er ihn, sobald er einem Menschen wie diesem gegenübersaß.
    Ein Weiterleben könne es wohl nicht geben, antwortete er. Während er das aussprach, fühlte er sich genötigt, es zu erklären, aber gleichzeitig fiel ihm ein, daß er es nicht zu kompliziert erklären durfte, um nicht neuerlich das Mißtrauen des Mannes zu wecken. Sobald das Gehirn aufhöre zu arbeiten, fuhr er fort, würde auch der Geist aufhören zu arbeiten. Er könne es sich nicht anders vorstellen. Er hatte kein schlechtes Gewissen, als er das aussprach und den Mann nicken und lächeln sah, während der Wirt ihn aufmerksam musterte. »Aber«, widersprach ihm der Wirt, »irgend jemand muß alles erschaffen haben? Ich könnte nicht begreifen, daß sich das gesamte Weltall zufällig gebildet hat?« Er schien auf eine Antwort zu lauern, doch Ascher antwortete rasch, man könne mit demselben Recht fragen, wer Gott erschaffen habe? »Sehr richtig«, fuhr der Mann auf, dann wandte er sich dem Wirt zu und rief triumphierend: »Was ich immer behaupte!«
    »Aber dann ist es doch sinnlos, wenn, sagen wir in Millionen Jahren, alles abstirbt, was es gegeben hat, wenn alles vergessen sein wird«, begehrte der Wirt auf. »In Millionen Jahren! Niemand kümmert sich darum, was in Millionen Jahren sein wird. Rede dir doch nichts ein«, fuhr der Mann dazwischen. Er schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch und lachte. Eine Zeitlang saßen und unterhielten sie sich noch. Der Mann sagte, er sei zuerst Pferdeknecht bei einem Großbauern gewesen, dann sei dem Bergwerksbesitzer der Knecht krank geworden und er habe bei ihm ausgeholfen. Dabei habe er des öfteren Schwierigkeiten mit den Gendarmen gehabt, die ihn, weil sie gewußt hätten, daß er ein aufbrausendes Wesen habe, aufgehalten und provoziert hätten, sobald er mit dem Fuhrwerk und den Pferden in ihrer Nähe aufgetaucht sei. Er habe sich nichts gefallen lassen und sei des öfteren eingesperrt worden. Das sei ihm gleichgültig gewesen. Auf diese Weise habe er sich ausschlafen können. Als der Knecht des Bergwerksbesitzers wieder gesund gewesen sei, habe ihn sein Bauer nicht mehr genommen. So habe er es als Bergarbeiter versucht. Jeden Tag sei er acht Stunden im Stollen gelegen und habe Glanzkohle abgebaut. Nach ein paar Stunden sei seine Kleidung von Feuchtigkeit durchnäßt gewesen. Pause habe es keine gegeben, nur nach einer Sprengung habe man gewartet, bis der Rauch und der Staub sich verzogen hätten. Bezahlt sei nach der Leistung geworden. Je nachdem, wieviel Raummeter ein Arbeiter abgebaut habe, sei seine Entlohnung gewesen, auf diese Weise sei auch das Weihnachtsgeld berechnet worden. Einmal, er glaube, es sei 1957 gewesen, habe er 1800 Schilling Lohn für einen Monat bekommen, das sei sein höchster Verdienst gewesen.
    »Wir haben lange von der Kohle gelebt«, setzte der Wirt fort. »Anfangs, als das Bergwerk zugeschüttet und alles zu Äckern gemacht wurde, kam es uns vor, als habe man unsere Vergangenheit ausgelöscht.« Kohle gäbe es jedoch überall. Er besitze noch das Schürfrecht und grabe im Herbst hinter dem Haus Kohlen für den Winter aus. Er zeigte ihm durch das Küchenfenster ein Loch im Garten, in dem eine Schaufel steckte. »Bis zum Kühlhaus kann ich ohne Anstrengung nach Kohle graben«, erklärte er. Erst dem Hang zu liege sie tiefer.
    Am Abend hatte Ascher die Abdrücke der Schneeflocken betrachtet, dann hatte er die schwarzen Etuis aus der Kiste genommen, die seine Frau, als er zum ersten Mal herausgefahren war, eingepackt hatte. »Mikroskopische Präparate«, war in Druckschrift in die Deckel gepreßt. In den Etuis waren zwei Reihen kleiner Holzraster eingesetzt, in deren Verzahnung die Glasplättchen steckten. An der Innenseite der Deckel war ein numeriertes Formular eingeklebt, auf dem er die Bezeichnung und den Fundort der Präparate festgehalten hatte. Foraminiferen (Globigerinen) Indischer Ozean, 4000 Meter, las er. Gyanea Lamarquii (Qualle), Tentakel, quer, Nordsee …, Plankton, Holländische Küste, Spongien, Kieselnadeln … er hatte die Präparate in der Mikroskopischen Gesellschaft in Wien eingetauscht. Im zweiten Etui fand er Querschnitte durch Rosenstachel, Lindenwurzel, die Knospe einer Roßkastanie, ein menschliches Gefäß, das Hauptepithel

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