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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Prozessionsfahne mit dem blauen und goldenen Fahnenstiel. Auch die Bergpredigt an der Decke war so dargestellt, wie die Witwe es beschrieben hatte. Als er sich umdrehte, sah er den Pfarrer. Der Pfarrer musterte ihn und zog sich rasch zurück. Ascher trat nach ihm ins Freie. Die Kinder spielten noch immer im Schulhof, im Fenster des Pfarrhauses standen Blumen in einer Glasvase, ein Traktor kroch die Steigung zum Dorf hinauf. Ascher überquerte die Straße und setzte sich in das gegenüberliegende Gasthaus. An einem Tisch saßen der Wirt und der Mann, den er bei der Parteiversammlung gesehen hatte, und spielten Karten. »Waren Sie in der Kirche?« fragte der Mann, ohne aufzusehen. Ascher hörte den spöttischen Unterton heraus. Ihm fiel ein, was er über ihn von der Witwe gehört hatte. »Wie gefällt Ihnen unsere Kirche?« fragte der Mann weiter. Ascher antwortete, sie gefalle ihm.
    »Ah, sie gefällt Ihnen!« rief der Mann aus, noch immer, ohne aufzusehen.
    Ascher wußte nicht warum, aber ihm kam vor, daß er nicht von der Kirche sprach, sondern über ihn. Er hatte den Zigarettenspitz vor sich liegen und starrte auf seine Karten. »Ich gebe auf«, sagte der Wirt und warf die Karten auf den Tisch. Er hatte ein breites Gesicht, schütteres Haar und trug eine Brille. Ascher hatte erfahren, daß er bei der Dorfkapelle die Klarinette spielte. Er betrieb Fischzucht, baute Obst an und hielt sich Vieh. Sein Großvater war Gründungsmitglied bei der Feuerwehr gewesen, ein Bild, das ihn mit einem goldenen Helm und einem Ledergurt unter dem Kinn in Uniform zeigte, war in der Gaststube aufgehängt. Daneben hingen noch mehrere gerahmte Gruppenfotografien von jungen Bauern und Knechten nach der Musterung. Alle trugen Hüte mit Blumensträußen, und jeder von ihnen hielt etwas in der Hand: einen Bierkrug, ein Huhn, eine Topfpflanze, ein Musikinstrument oder eine Zigarre. Auf anderen Fotografien waren Bergarbeiter bei einem Jubiläumsfest zu sehen und Hochzeiten, bei denen die Musikanten vor den Gästen auf einem Schneehaufen lagen. »Selten einmal eine Hochzeit, ab und zu eine Bestattung, ein Dutzend Gäste am Sonntagvormittag«, hatte ihm Golobitsch erzählt, als er vom Wirtshaus gesprochen hatte. »Sie kennen den Pfarrer?« fragte der Wirt. Ascher antwortete, daß er ihn kenne, und erzählte, wo er ihn zum ersten Mal getroffen habe.
    »Er ist ein eigenartiger Mensch«, sagte der Mann daraufhin, er trage fast immer Handschuhe und einen Mantel, auch im Sommer. Im Sommer halte zum Beispiel seine Köchin die Leiter zu den Zwetschgenbäumen, und der Pfarrer mit Handschuhen und Mantel schneide die Äste. Seit seinem Unfall, man vermute einen Motorradunfall, habe er Schwierigkeiten mit dem Gehen. Überdies sei er magenkrank. Die Köchin, die er übrigens von seiner vorherigen Stelle in der Obersteiermark mitgenommen habe, koche für ihn Diät. Er sei kein guter Redner, halte zum Beispiel auch bei Begräbnissen keine Reden. Während sein Vorgänger, ein Pfarrer aus Bayern, zu den Hinterbliebenen gegangen sei und sich nach dem Lebensweg des Verstorbenen erkundigt habe, habe sich der jetzige Pfarrer vollständig zurückgezogen. »Wissen Sie, was mit ihm los ist?« fragte der Mann. »Er fürchtet sich vor den Menschen. Das ist es!« Noch immer hatte Ascher den Eindruck, daß der Mann, indem er über den Pfarrer sprach, ihn meinte. Er konnte sich natürlich täuschen, glaubte jedoch nicht recht daran. »Unser früherer Pfarrer«, erklärte der Wirt, wie um abzuschwächen, »hat sich nach den Lebensläufen der Verstorbenen erkundigt und sie in die Rede am Grab eingeflochten, daß alle geweint haben.« Habe er eine Predigt gelernt, so sei er im Vorraum des Pfarrhauses auf und ab gegangen, daß man draußen seine Schuhe habe knarren hören. »Unser jetziger Pfarrer hingegen«, setzte er fort, »lebt so zurückgezogen, daß wir nicht einmal wissen, wie er sich auf die Sonntagspredigt vorbereitet.« Zwar predige er in der Kirche, allerdings halte er sich streng an das Evangelium. Im Grunde mache er alles richtig, trotzdem fehle etwas. »Aber ich will ihm nicht unrecht tun«, schloß er. Der Mann hatte Ascher die ganze Zeit über, in der der Wirt gesprochen hatte, lächelnd angesehen, dann plötzlich hatte er Ascher gefragt, ob er an ein Weiterleben nach dem Tode glaube oder an einen Gott? Ob es einen gebe? Und wie das Weiterleben nach dem Tod ausschaue? Ascher sah in das kleine, von Falten durchzogene spöttische Gesicht, in die lebhaften Augen,

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