Der stille Ozean
habe sie aufgefordert, ihn einzulassen. Sie rauchte eine Zigarette. Ein geblümtes Kleid hatte sie an. Neben der Haustüre war ein getrockneter Birkenschwamm befestigt. Ihrer Meinung nach erfolge das Töten der Hunde systematisch, sagte sie. Nicht die Jäger machten es, sondern Leute, die wollten, daß bei den Höfen keine Hunde seien, damit sie die Bewohner besser unter Druck setzen könnten. Die Bäuerin widersprach ihr und wiederholte, wie der Jäger Scherr ihr angetragen habe, den Hund zu erschießen. »Ein Loch machen und eingraben«, unterbrach sie der Bauer, »mehr können wir nicht machen.« Als Ascher auf dem Weg zur Witwe am Kaufhaus vorbeiging, standen die Jäger noch immer auf der Straße, tranken und lachten. Die Gewehre lagen auf den Neben- und Rücksitzen der Autos, die Strecke war eingesammelt worden. Die Auslagescheiben des Kaufhauses waren so stark angelaufen, daß er nicht hineinsehen konnte. Hinter sich hörte er Schnee vom Dach rieseln und auf den Boden platschen. Nach dem Essen ging er zum Schneider nach St. Ulrich, um die Samtweste zu holen. Unterwegs kam ihm die Tante zwischen dem Kirschbaum und dem Misthaufen entgegen. Sie trug einen kurzen Regenschirm, die schwere leere Milchkanne und einen Blumenstrauß, der in Zellophanpapier eingewickelt war. Beim Essen hatte Ascher der Witwe erzählt, was vorgefallen war, die Witwe hatte jedoch aus Vorsicht geschwiegen. Sie hatte statt dessen über ihre Kindheit geredet, in der sie sich mit ihrer älteren Schwester ein Paar Schuhe hatte teilen müssen. Am Sonntag sei aus diesem Grund zuerst die Schwester zur Frühmesse gegangen, dann sie zur Elfuhrmesse.
Er spazierte jetzt ein Stück durch den Wald, in dem der Boden von rostbraunem niedergesunkenen Farnkraut bedeckt war. Unten im Graben stand die weiße Kapelle, rund um sie dehnten sich die Felder aus. Manchmal lag noch eine so dünne Schneeschicht auf den Wiesen, daß er das Gras durchschimmern sah. Als er die Kapelle erreicht hatte, bemerkte er zwei Landvermesser, die dort, wo sich das Bergwerk befunden hatte, arbeiteten. Er spürte, wie seine Füße kalt wurden. Rasch stieg er das steile Straßenstück nach St. Ulrich hinauf und kaufte sich im Geschäft gefutterte Gummistiefel, Wollsocken und warme Handschuhe. Zu seiner Überraschung bot man ihm ein Glas Wein an. Er durfte auf einem Sessel Platz nehmen, und zwei Verkäuferinnen in blauen Nylonmänteln packten ihm die Kleidungsstücke ein. Solange er im Geschäft saß, war er der einzige Kunde.. Auf den Metallregalen lagen Hemden, Bleistifte, Hosen, Schnapsflaschen und Zuckerwaren, von der Decke hingen rote Papierpfeile mit der Aufschrift: Sonderangebot. Nachdem er bezahlt hatte, ging er zum Schneider. Unterwegs kam er wieder an der Apfelpresse vorbei, die aber zugesperrt war. Ein Moped lehnte vor einer offenen Scheune, Menschen sah er keine.
Der Schneider hatte gerade geschlafen. Erst nachdem Ascher ein zweites Mal geläutet hatte, kam er zur Tür und führte ihn ohne besondere Freude in das nächste Stockwerk. Die Luft war abgestanden, und es roch süßlich. Ascher bezahlte die Weste, nachdem er sie anprobiert hatte, und ließ sich auf dem Rückweg Zeit. Das Feuerwehrgebäude war, seitdem er das letzte Mal hiergewesen war, frisch gestrichen und mit schwarzer Schrift kenntlich gemacht worden. Dahinter im Weingarten, der vermutlich dem Schneider gehörte, erblickte er das hölzerne Windrad. Ein Stück weiter stand der Schuldirektor mit Kindern. Als er im Gebäude verschwand, liefen die Kinder lärmend auf der Straße herum und faßten sich an den Schultaschen. Eine Weile sah Ascher ihnen zu, dann spazierte er zur Kirche, die er durch die Seitentür betrat. Er fand die kleine Landkirche hübsch. Heiligenfiguren standen an den Wänden, die Kanzel war aus Marmor und mit vergoldeten Blättern verziert. Auf beiden Seiten des Altars sah er Glasfenster. In deren Mitte befand sich ein großes, rotes Herz, das von einem mit Rosen verzierten Kreis eingefaßt war. Aus dem Herz brannte eine Flamme, die Strahlen aussandte … Zu Ostern – hatte die Witwe erzählt –, wenn in der Karwoche gefastet wurde (damals hätte sie oft nur einen Teller Suppe mit eingebrockten alten Krapfen am Tag gegessen), seien bisweilen Männer und Frauen während der Messe ohnmächtig zusammengebrochen. Einige hätten aus Erschöpfung in den Bänken geschlafen. Schon in dieser Absicht seien manche überhaupt zur Kirche gegangen … In einer Ecke lehnte die weiße, seidene
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