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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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und mit griesgrämigem Gesicht zurückgekommen. Sie nahm ihre Handtasche vom Tisch, stellte sie zwischen ihre Füße und klemmte sie mit den Knöcheln fest. Dann nahm sie ein Stück Backhuhn aus einer Schüssel und schnitt nach dem ersten Biß eine Grimasse zur jungen Frau hin, um ihr zu zeigen, daß ihr das Essen nicht schmeckte. Ascher wandte sich ab. Obwohl die Frau etwas Unnahbares hatte, gefiel sie ihm. Der Beistand hatte mit dem Singen aufgehört, zuletzt hatte er, den Wirt musternd, gerufen: »Der Fotograf soll die Reste fotografieren, dann hat er zu Hause etwas zu essen.« Der Wirt hatte die Bemerkung überhört. Er erklärte Ascher gerade, daß der Pfarrer beim Hochzeitsessen immer anwesend sei, heute habe er sich jedoch nicht imstande gesehen, der Einladung zu folgen.
    Die Gäste hatten sich durcheinander an die Tafel gesetzt, wechselten ihren Platz und unterhielten sich lebhaft. Andere waren still, blickten vor sich hin und tranken nachdenklich ein Glas Wein.
    »Ich setze mich zu Ihnen«, sagte die Witwe zu Ascher. »Die meisten bedauern«, knüpfte sie an das an, was der Wirt gesagt hatte, »daß der Pfarrer nicht zur Feier gekommen ist.« Sie lachte plötzlich. »Einmal habe ich im Pfarrhof gearbeitet, da ist der Bischof gekommen. Es war im Mai, glaube ich. Bei der Einfahrt haben sie einen Triumphbogen aus geflochtenem Immergrün aufgestellt, mit einem handgemalten Schild: Willkommen unserem Oberhirten.« Alle seien festlich gekleidet gewesen. Auch die Kirche sei mit Immergrünkränzen geschmückt worden. Das sei heutzutage nicht mehr der Fall, jedoch würde der Bischof nach wie vor von der gesamten Gemeinde begrüßt. Im Schulhof stünden die Kinder, die Lehrer, die Ortspersönlichkeiten wie der Bürgermeister und die Gemeinderäte. Das letzte Mal, als der Bischof gekommen sei, sei ein in der Umgebung bekannter Trinker zum Bürgermeister hingegangen und habe ihm die Hand geküßt. Möglicherweise komme das daher, daß bei ihnen ein großer Respekt vor Autoritäten bestehe. Wieder lachte sie. Seinerzeit sei auch gesungen worden. Einmal, sie könne sich daran erinnern, hätten sie ein Lied in lateinischer Sprache vortragen müssen, was eine große Anstrengung für alle bedeutet hätte. Im Pfarrhaus sei aufgekocht worden, aber zumeist hätten die Bischöfe an Verdauungskrankheiten gelitten und deshalb die Speisefolgen vor dem Besuch vorgeschrieben. Als sie noch im Pfarrhaus gearbeitet habe, habe sie beim Besuch des Bischofs eine Kalbspastete anfertigen müssen, welche sie am Vorabend zur Aufbewahrung in den Keller gestellt habe. (Übrigens seien auch die Pfarrer der umliegenden Gemeinden und die Kapläne eingeladen worden.) »Als der Bischof Platz genommen hat, bin ich in den Keller gegangen, um sie zu holen. Ich war so aufgeregt, daß ich erst im Vorzimmer bemerkt habe, daß Mottenfliegen Eier auf die Pastete gelegt hatten.« In der Küche hätten alle zu tun gehabt und seien nervös gewesen, die Pfarrersköchin sei eine äußerst unangenehme und strenge Frau gewesen (die nach dem Tod des Pfarrers dessen ganzes Mobiliar erbte und sich den Tisch und die Stühle und den Schrank der Kanzlei von der Gemeinde abkaufen ließ), daher habe sie sich entschlossen, das Tablett mit der Pastete aufzutragen. Beim Abservieren dann habe sie feststellen können, daß manche die Pastete mitsamt den Fliegeneiern gegessen hätten, die übrigen hätten die Fliegeneier an den Rand geschoben, die Pastete jedoch vollständig oder teilweise verspeist.
    Wieder lachte sie.
    Die Bischöfe seien stets auch von den Vereinen, der Feuerwehr, dem Kameradschaftsbund und der Musikkapelle begrüßt worden, sie hätten die Messe gelesen und gepredigt, und die Kirche sei übervoll gewesen. Bei der Ankunft hatten die Glocken geläutet, Böller seien abgeschossen worden, und sobald das Auto zu sehen gewesen sei, habe die Musik zu spielen begonnen. Das letzte Mal sei dies auch in der angeführten Reihenfolge geschehen, es sei jedoch nicht der Bischof eingetroffen, sondern der Zuckerkrämer mit der Verkaufsbude im Kofferraum.
    Ascher spürte, daß er betrunken war. Er konnte der Witwe zwar folgen, war jedoch müde und benommen. Es war nach Mitternacht, und er überlegte, wie er zurückkommen sollte, als ein Mann den Ballsaal betrat und nach dem Wirt verlangte. Er war so hastig eingetreten, daß sich ihm die Aufmerksamkeit aller zuwandte. Ascher hörte, wie er um die Erlaubnis zu telefonieren bat, ein Mann sei tollwütig geworden. Die Gäste

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