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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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»Das ist möglich«, erwiderte er. »Mein Name ist Dr. Ascher.«
    »Ich habe davon gelesen«, sagte der Doktor schnell. Dann erklärte er der Frau den Sachverhalt: Selbstverständlich müsse ihr Mann am nächsten Tag das Krankenhaus aufsuchen, auch der Hund müsse untersucht werden, allerdings bestünden keine Anzeichen von Tollwut. Dann wandte er sich wieder Ascher zu und fragte ihn, ob er ihn nach Hause bringen dürfe.

19
     
    Sie waren mit dem Auto bis vor Aschers Haus gefahren. Ascher hatte an den Wegkreuzungen die Richtung angegeben, die sie einschlagen mußten, ansonsten war nur das Brummen des Motors zu hören gewesen. »Ich bin schon dreißig Jahre hier«, sagte der Doktor plötzlich. Sein Vater sei ebenfalls Landarzt gewesen, in Gleinstätten, er habe die Praxis übernommen. Der Vater habe viele Kranke in Kuhställen behandelt. Die Betten seien an der Decke aufgehängt gewesen und mit Stroh gefüllt. Vor dem Krieg hätten die Knechte alle in den Kuhställen geschlafen oder in Saustallzimmern, kleinen Kammern über dem Schweinestall. Im Winter seien sie jedoch in den Kuhstall schlafen gegangen, weil sie am Abend zu müde gewesen seien, um einzuheizen und so lange zu warten, bis es warm geworden sei. Am Tag sei das Nachheizen ja nicht möglich gewesen, so seien also die Zimmer bis zum Abend immer eiskalt gewesen. Vornehmlich habe es Lungenkrankheiten gegeben. Die Kuhställe seien zumeist feucht, dunkel und dumpf gewesen, hätten gestunken und oft nur ein kleines Fenster gehabt. Sie fuhren am Hof der Witwe vorbei. »Kennen Sie die Frau?« fragte der Doktor. Ascher nickte.
    »Ihr Mann ist erst aus dem Kuhstall ausgezogen, als er geheiratet hat. Da hat er zum ersten Mal in einem Bett mit einem Leintuch geschlafen. Das war 1950. Die Handwerksburschen und die Arbeitslosen in den dreißiger Jahren haben alle in den Kuhställen überwintert. Fragen Sie die Älteren, alle wissen davon. Sie haben in den Sautrögen geschlafen, die mit Stroh gefüllt waren. Das Elend war nichts Besonderes.« Man dürfe der vergangenen Zeit nicht nachtrauern, sagte er. Wer kenne überhaupt noch das Ausmaß der Armut? Nach heutigen Verhältnissen sei es unvorstellbar gewesen. »Schauen Sie sich um: Manche haben damals Hunde und Katzen gegessen, vor allem Familien mit vielen Kindern.« Das Schweinefleisch sei kostbar gewesen, so habe man das genommen, was umsonst war. »Die meisten wollen nicht mehr darüber reden, aber es gibt welche, die Ihnen das zugeben werden. Sie sagen, es schmecke nicht schlecht, besonders das Hundefleisch sei gut. Natürlich konnten sie es zubereiten, daß man es nicht vom Schweinefleisch habe auseinanderhalten können.« Viele aber hätten nicht einmal das gehabt. »Das ist die Wahrheit«, schloß er. Sie schwiegen nun wieder einige Zeit, dann fuhr der Doktor fort, daß Ascher einmal den Unterschied zwischen der Tombacher und der Obergreither Seite anschauen solle. »Unten in Tombach wohnen ehemalige Bergarbeiter. Sie haben meistens kleine Besitzungen, aber neue, gemauerte Häuser mit Badezimmern und neueren Möbeln. Im Grunde leben sie wie in der Vorstadt. Fast alle gehen einer Arbeit nach und betreiben die Landwirtschaft nebenbei und ohne besonderen Ehrgeiz, weil sie einen Beruf gelernt haben und die Familien schon immer arbeiten gegangen sind. Sie erhalten Pensionen, sind besser krankenversichert, und das schlägt sich nieder. Heroben gibt es viele Kleinbauern. Zwar arbeiten viele von ihnen, aber erst seit zehn oder fünfzehn Jahren. Manche können sich überhaupt nicht mehr umstellen und dauernd einer geregelten Arbeit nachgehen. So arbeiten sie dort ein paar Monate, da ein paar Monate und beziehen zwischendurch die Arbeitslosenunterstützung. Eine andere Gruppe fährt mit dem Sonderbus täglich nach Graz und wird gegen Abend wieder zurückgebracht. Die meisten haben die Landwirtschaft aufgegeben. Andere wiederum versuchen mit allen möglichen Mitteln, bei der Landwirtschaft zu bleiben: Sie züchten Bienen oder Fische, bauen Obst an, probieren es mit einer Buschenschank, deren einziges Gastzimmer die Küche ist und in der die gesamte Familie lebt: Kinder, Alte, die Bäuerin, dazu läuft noch der Fernseher, und die Trinker, die es überall gibt, sitzen jeden Abend herum. Oder sie versuchen sich als Milchführer, müssen jeden Morgen bis acht Uhr die Milch in der Sammelstelle abgeliefert haben und dann die leeren Kannen wieder zurückführen. Sie haben keine Anstellung, werden nur nach den Litern bezahlt, die

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