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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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den Mund hatte er tiefe Falten. Wahrscheinlich litt er an Magengeschwüren. »Arbeitet er?« fragte Ascher.
    »Er trinkt«, sagte die Frau. »Er arbeitet bei einer Baufirma in St. Martin.«
    Ihr Haar war gefärbt, sie war klein und dicklich und hatte einen Sprachfehler. Wenn sie sprach, wanderte ihr Blick zu den anderen Männern und fiel erst zum Schluß auf Aschers Gesicht.
    Er bemerkte, daß auch der Wirt ihn ernst anschaute. Mit seiner Brille sah er aus wie ein alt gewordener Schüler. »Es ist gut«, sagte Ascher. »Er wird sich beruhigen.« Es kam nur darauf an, ihn von der Harmlosigkeit seines Zustandes zu überzeugen. Er beugte sich hinunter und fing an zu reden. Vermutlich habe er nachgedacht, was in dem Aufklärungsblatt gestanden sei. »Und da Sie trotzdem nicht zum Doktor gegangen sind, haben Sie sich Vorwürfe gemacht. Inzwischen ist es später geworden, und Sie haben Angst bekommen.« Der Mann sagte nichts.
    »Passen Sie auf: Sie nehmen einen Schluck Wasser, und ich lasse Sie in Ruhe, bis der Doktor kommt.« Er nahm das Glas Wasser vom Sessel. Sein Mantelstoff rieb aneinander, und Ascher hörte das Geräusch wie einen flüchtigen Pfiff. Dabei spürte er, daß er müde war. Er zwang sich, nicht nachzugeben, griff mit der anderen Hand unter den Kopf des Mannes, half ihm, sich aufzusetzen und flößte ihm einen Schluck ein. Er sah, wie deutlich das Handgelenk und die Fingergelenke des Mannes unter der Haut hervorstanden, die Hände waren jetzt ruhig. »Schlafen Sie ein wenig«, sagte er. Der Mann schüttelte den Kopf.
    »Gut, dann bleiben Sie ruhig liegen, und Ihre Frau und ich warten so lange, bis der Doktor kommt.«
    »Ja«, sagte der Mann.
    »Wir setzen uns in die Küche«, sagte der Wirt beim Hinausgehen.
    Die Frau zog ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Schürze.
    »Es ist nichts geschehen. Morgen –«, begann Ascher. »Ja, morgen –«, unterbrach ihn die Frau. Dann schneuzte sie sich und richtete sich auf. »Er soll nicht so viel trinken«, sagte sie ruhig.
    Ascher spürte seine Müdigkeit wieder stärker. Der Kranke hatte die Augen geschlossen und lag ruhig da.
     

18
     
    Der Doktor war ein großgewachsener, schlanker Mann von sechzig Jahren. Er verschwand im Zimmer und blieb eine Weile dort. In der Küche war ein Vorhang vor eine Ecke gezogen, hinter dem ein Kind schlief. Niemand wechselte mit Ascher ein Wort. Auch der Doktor hatte ihn nur erstaunt angesehen, Ascher wußte nicht, ob er ihn erkannt hatte oder ob er sich fragte, wer er war. Er hatte helle Augen, ein melancholisches, übernächtigtes Gesicht und schien keinen großen Wert auf ein Gespräch zu legen. Die Frau hatte inzwischen eine Flasche Wein auf den Tisch gestellt und schnitt Milchbrot mit einem langen Messer auf. »Wir nehmen nichts, wir kommen gerade von der Hochzeit«, sagte der Wirt. Die Frau hörte auf, das Brot zu schneiden, räumte jedoch nichts weg, sondern setzte sich auf einen Sessel. Ascher fielen die Nächte ein, die er im Krankenhaus verbracht hatte. Zumeist hatte er im Bereitschaftszimmer geschlafen, bis man ihn wegen eines dringenden Falles geweckt hatte. Wie mühsam es gewesen war aufzustehen, besonders, wenn es schon Tag wurde.
    Neben dem Herd fing der Kühlschrank zu laufen an, in einer Ecke sah er zwei alte, bunte Drucke, die die Kreuzigung und die heilige Maria darstellten. Sie waren gerahmt, aber die Scheiben waren so schmutzig, daß Ascher im trüben Licht kaum erkennen konnte, was dargestellt war. Die Küche hatte ein bescheidenes eingebautes Regal für das Geschirr, einen elektrischen Ofen und eine Sitzecke. Sein Kopf war nun klarer als zuvor, aber seine Beine waren schwer. Eine zusammengelegte Gehschule lehnte an einer Wand, draußen im Vorzimmer lag eine Handsäge. Er verspürte Lust, etwas zu trinken, er sagte jedoch nichts. So saßen sie schweigend da, bis der Doktor wiederkam. Er streifte die Ärmel auf und wusch sich die Hände. Als er sich eingeseift hatte, drehte er sich Ascher zu und fragte ihn, ob er Arzt sei. Ascher bejahte die Frage.
    Er wusch sich die Hände weiter. Seine Tasche stand groß und klobig auf dem Tisch. »Waren Sie zufällig hier?« fragte er. »Nein, ich wohne in der Nähe.«
    Der Wirt und die Frau und der andere Mann sagten noch immer nichts. Sie schauten ihn nur neugierig an und folgten aufmerksam dem Gespräch.
    »Ich glaube, ich habe von Ihnen gehört«, antwortete der Doktor nach einer Pause. Ascher spürte förmlich, daß die beiden Männer und die Frau etwas erwarteten.

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