Der stille Ozean
erhoben sich, liefen zu ihm hin und fragten ihn aus. Ascher hatte nicht sofort begriffen, was geschehen war, aber als ihm klar wurde, worum es sich handelte, spürte er sofort wieder seine Betrunkenheit. Er fluchte im stillen und gab seiner ersten Regung, zu verschwinden, nach. In der Aufregung bemerkte niemand, daß er seinen Mantel anzog und hinausging.
Überall waren die Häuser dunkel, schon weiter zurückliegend hörte er die gedämpften Stimmen aus dem Gasthaus. Er fühlte den Wind in den Kleidern und fand es schön. Die Scheinwerfer eines Autos kamen auf ihn zu, und im ersten Augenblick überlegte er, sich zu verstecken, aber auf der linken Seite stieg der Hügel an, rechts war ein Haus mit einem Zaun So wartete er, bis das Auto an ihm vorbeigefahren war. Es hielt jedoch, und Ascher erkannte den Mann, der in das Gasthaus gelaufen war, und den Wirt. »Sie kommen mit?« fragte der Wirt. »Wir haben Sie gesucht. Jemand sagte uns, Sie hätten sich auf den Weg gemacht.« Ascher stieg wortlos ein. Das Auto fuhr ein kurzes Stück bergauf und bog in eine Seitenstraße, die zu einem Hof führte, ab. Im Vorraum lagen schmutzige Schuhe und Stiefel. Der Wirt und der Mann, der, wie er im Wagen bemerkt hatte, unter seiner Jacke nackt war, waren ihm schon vorausgeeilt. In der Küche saßen zwei Kinder und ein alter Mann mit einem Spazierstock. Sie blickten ihn neugierig an. Vermutlich fürchteten sie sich vor ihm. Er hatte inzwischen seinen Mantel aufgeknöpft und dabei die Kunststoffblume bemerkt, die man ihm in Hofmeisters Haus angesteckt hatte. Er konnte nicht sagen warum, aber die Erinnerung an den vergangenen Abend beruhigte ihn. Der Vorraum war von einer trüben gelben Lampe beleuchtet. Er wandte sich der angelehnten Tür zu, hinter der er ein Stöhnen hörte, und trat ein. Das Zimmer war klein, und außer dem Wirt und dem Mann, der ihn geholt hatte, sah er noch eine Frau. Ein Kasten mit Kompottgläsern befand sich neben dem Bett, in dem ein Mann lag, den er nicht kannte. Speichel lief über sein Kinn, und seine Hände zupften an der Decke. Ascher überlegte, während er auf den Kranken zuging, was zu tun sei. Zunächst mußte er erfahren, ob der Mann von einem Tier gebissen worden war und wie lange das her war. Dann wollte er ihn ein Glas Wasser trinken lassen und sehen, ob er schlucken konnte. Jetzt entdeckte er ein gefülltes Glas auf einem Sessel.
»Er trinkt nichts«, sagte die Frau. »Er bekommt sofort Krämpfe, wenn er trinkt. Ein Hund hat ihn vor dem Sägewerk angefallen. Plötzlich ist er auf ihn zugelaufen und hat ihn in das Bein gebissen.«
Es kam vor, daß die Zeit bis zum Ausbruch der Tollwut kürzer war, aber im Durchschnitt betrug sie vierzig Tage. Weshalb wußte die Frau so genau, was die Ursache war? Hatte der Mann ihr davon erzählt? Weshalb hatte er keinen Arzt aufgesucht? Und was war mit dem Hund? »Das war heute nachmittag«, ergänzte die Frau. Der Mann sah ihn an, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und sein Atem ging keuchend.
»Zeigen Sie mir Ihr Bein«, sagte Ascher. Er schlug die Decke zurück und sah, daß ein Leinenfleck mit einer elastischen Binde um eine Wade gebunden war. Rasch hatte er sie heruntergenommen. Die Wunde war nicht sehr groß, jedoch tief. Zweifellos mußte der Mann stark geblutet haben. »Passen Sie auf, daß er Sie nicht verletzt«, sagte der Wirt. »Es ist nicht weiter schlimm«, antwortete Ascher, obwohl er sich noch nicht sicher war. »Es ist gefährlich«, sagte der andere Mann. »Sagen Sie mir, ob Sie über die Tollwut Bescheid wissen?« fragte Ascher den Mann im Bett und blickte ihm in das Gesicht. »Natürlich weiß er Bescheid«, sagte die Frau. »Wir haben das Blatt von der Bezirkshauptmannschaft bekommen. Er hilft den Jägern beim Treiben, und darum haben sie ihn zu einem Vortrag mitgenommen. Er wollte morgen zum Arzt. Er hat gesagt, er könne zuwarten.«
»Versuchen Sie einen Schluck zu trinken«, sagte Ascher und setzte sich auf das Bett. Der Mann schüttelte den Kopf. »Es geht nicht«, antwortete er. »Doch, Sie werden sehen, Sie können trinken.« Aber der Mann rutschte in seinem Bett zurück und zitterte.
Ascher betrachtete ihn genauer. Sein Haar war vom Liegen zerdrückt, er war etwa vierzig Jahre alt, seine Hände waren rissig und schwielig, die Fingernägel breit und gebogen. Unter seinem Hemd sah er eine magere Brust. Der Kehlkopf stand scharf aus dem Hals, und die Augen waren verschwollen, so daß er ihre Farbe nicht erkennen konnte, um
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