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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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sie herbeischaffen. Kein Tag im Jahr ist frei, und nie dürfen sie sich Zeit lassen, sonst verdirbt die Milch. Dafür tragen sie dann die Verantwortung. Von dem Geld müssen sie den Traktor bezahlen, die Reifen, den Diesel. Es gibt auch kein dreizehntes oder vierzehntes Monatsgehalt, keinen Urlaub, keinen Sonntag, keine Weihnachten. Übrig bleiben dreitausend Schilling im Monat als Nebenverdienst. Und trotzdem besteht ein starker Drang nach dem ›modernen Leben‹. Sie möchten am liebsten alles zerstören und neu aufbauen. Oft errichten sie neue Häuser neben den alten und reißen diese dann ab oder vermieten sie an Wochenendurlauber aus der Stadt, die mit ihren gesicherten Einkommen als Angestellte und Beamte ein paar Tage im Monat herauskommen, ›um gute Luft zu atmen‹. Da sie von Anfang an immer wenig Geld hatten, da Geld immer knapp war, sind sie von Kindheit auf Materialisten. Da sie an das Geld glauben, ist es um so schmerzlicher, weniger zu haben als die Menschen in der Stadt. Was tun sie daher anderes, als sie nachzuahmen? Sie bauen sich Vorstadthäuser und verändern ihr eigenes Aussehen. Ihre Wünsche und Bedürfnisse passen sie den städtischen an. Mehr und mehr verzichten sie auf eigene Ansprüche. Ich habe immer mehr Neurotiker hier getroffen. Die Einsamkeit ist groß geblieben. Stundenlang sitzen sie beim Anbauen und Mähen allein in den Traktoren, füttern das Vieh, ernten. Gehen sie nicht in ein Gasthaus, so sind sie bei Einbruch der Dunkelheit abgeschnitten wie auf Schiffen. Da wird die Einsamkeit noch größer. Es gibt viele Trinker, und beides zusammen macht den Hauptanteil der Selbstmorde aus. Sie brauchen aber nicht zu glauben, daß die Menschen nicht gerne hier sind. Auch brauchen Sie nicht zu glauben, daß sie nicht wissen, wie es um sie steht. Trotzdem wollen sie nicht weg. Sie können nicht das Überschaubare verlassen und in der Anonymität leben. Auch wenn sie sich oft über den anderen lustig machen, so werden sie doch überall erkannt und ohne Mißtrauen behandelt. Kommen sie während dem Essen oder Jausnen vorbei, ist selbstverständlich ein Platz für sie frei. Sie können jedes Haus betreten, man tritt auch frei bei Ihnen ein. Es gibt keine Glocke, die Türen sind bei Tag offen. Feste werden gemeinsam gefeiert, daraus beziehen sie in der Erinnerung wieder eine Zeitlang ihre Unterhaltung. Das Wesentliche ist, daß sie einander kennen: aus der Schule, von der Feuerwehr, dem Kameradschaftsbund, der Jagd, von Hochzeiten und Umzügen, Zeltfesten und kirchlichen Veranstaltungen. Einige betätigen sich auch politisch, aber eigentlich nur wenige. Sie mißtrauen Politikern, oft nennen sie sie Gauner.«
    Sie waren vor Aschers Haus gekommen und fuhren holpernd über den schmalen Weg. Vor der Tür blieben sie stehen, der Doktor schaltete das Licht aus und zündete sich eine Zigarette an.
    »Wollen Sie eintreten?« fragte Ascher. »Nein, bleiben wir hier heraußen sitzen.« Der Doktor rauchte stumm die Zigarette, dann fuhr er fort zu erzählen. »Ich habe hier nicht viel Umgang mit Menschen aus der Stadt«, sagte er entschuldigend. Was ihm Sorgen bereite, sei die spürbare Aggression der Menschen. Entweder richte sie sich gegen sie selbst und gegen Tiere, oder auch gegen andere. Gefährlich sei nur, daß viel Häuser, da gerne gejagt würde, mit Gewehren ausgestattet seien, aber auch mit Pistolen, die zum Schweineschlachten verwendet würden. »Zumindest aber ein Luftdruckgewehr hat ein jeder«, sagte er. »Der eine schießt Tauben damit, der andere die Gimpel, die sich im Frühjahr an die Pfirsichtriebe heranmachen, auch Katzen werden gerne geschossen. Jetzt ist die Tollwut die beste Ausrede.« Da könne alles, was angetroffen werde, niedergeschossen werden, und niemand würde dazu etwas sagen. Selbst die Kinder und Jugendlichen dürften schon schießen. Früh würden sie dazu abgerichtet, später könnten sie es oft kaum erwarten, auf die Jagd mitgenommen zu werden. »Da sehen sie dann, wie rasch ein Lebewesen stirbt, und dadurch glauben sie, daß es nicht viel wert ist«, fügte er hinzu. »Ich selbst empfinde nur Widerwillen beim Töten. Vor kurzem habe ich einen angefahrenen Hasen auf der Straße liegen gesehen. Ich bin ausgestiegen und habe ihn klagen gehört. Ich habe mich gebückt und wollte ihn aufheben, er ist aber so heftig zusammengezuckt, daß ich ihn losgelassen habe. Dann dachte ich mir, ich müsse seine Schmerzen verkürzen und habe ihn an den Hinterläufen aufgehoben und gegen

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