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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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graue Wolken schwebten in der Luft, aber wenn er nun lange genug hinsah, bemerkte er, daß sie sich langsam tiefblau verfärbten. Es tat ihm wohl, ohne Absicht den Himmel zu betrachten. Dann fielen ihm wieder das Gewehr und die Pistole ein, er ging zurück in die Küche, trug sie in den Schweinestall und wickelte sie in einen Hanfsack. Auch die Munition fand er und legte sie zu den Waffen. Er dachte, daß ihn jetzt seine Frau und das Kind besuchen konnten. Er würde sie vom Kaufhaus anrufen und erzählen, was vorgefallen war. Aber vielleicht war es besser, den Tag abzuwarten und den Anruf auf den Abend zu verschieben. Er zog sich an und schloß das Haus ab. Vor ihm lagen die Berge, ganz weit in der Ferne, und dort sahen die Wolken aus wie violette Wellen mit goldenen Kämmen, die in einer milchig blauen Luft schwebten, so hoch oben, aber so klar sichtbar, daß er seine Winzigkeit körperlich spürte. Er begegnete niemandem. Vor dem Kaufhaus stand ein vereinzeltes Moped. Die Tür zu Zeiners Haus war offen, in der Küche richtete seine Frau die Kinder für die Schule her, der jüngsten Tochter flocht sie gerade Zöpfe. Der Alte schlief noch. Die Frau Zeiners lächelte ihn an, wie beim letzten Mal. Ihr Mann sei noch im Stall, er komme gleich. Dann stellte sie eine Schale Kamillentee und eine Flasche vor ihn hin. »Das ist Slibowitz«, sagte er erklärend und fuhr fort, sich um die Kinder zu kümmern. Wenn sie etwas wußte, ließ sie sich nichts anmerken. Möglicherweise vermied sie ein Gespräch über die Hochzeitsfeier, es konnte aber auch sein, daß sie zu sehr von ihren Kindern in Anspruch genommen war. Er sah ihr zu, und ihre sicheren, entschiedenen Handgriffe taten ihm wohl. Die Wellensittiche zwitscherten in den Käfigen. Gerade als die Kinder das Haus verließen, kam Zeiner.
    Er hatte einen zerrissenen grün und weiß gestreiften Pullover übergezogen und den Jägerhut auf dem Kopf. Sein Gesicht war von der nächtlichen Feier und von der Morgenluft gerötet.
    Er zeigte ihm seine Waffen im Schlafzimmer: ein Flobertgewehr, ein doppelläufiges Gewehr mit einem Umschalthebel für Schrot und Patronen, ein Patronengewehr und eine Pistole. Einen Tag zuvor habe er sein Patronengewehr von der Reparatur zurückbekommen, sagte er. Zuletzt fügte er hinzu: »Wir haben gar nicht gewußt, daß Sie ein richtiger Doktor sind.« Er lud eines der Gewehre, sicherte es und fragte Ascher, ob er mit ihm zu seinem Teich hinunterkomme. »Ich muß nachschauen, ob alles in Ordnung ist«, erklärte er.
    Ascher fühlte kein Mißtrauen. Wenn er Zeiner beobachtete, so konnte er sogar etwas von Hochachtung spüren, vielleicht bildete er sich das aber nur ein. Er nahm Platz, der Hund legte sich vor seine Füße, und sie fuhren ein Stück die Straße hinunter. Auf einer Seite waren die Wiesen weiß vom Reif. Der Himmel hatte noch dieselben Farben, nur waren sie heller, an manchen Stellen bleich geworden. Sie schwiegen, bis der Wagen ein Stück weiter unten in einem Hof hielt. Nachdem sie ausgestiegen waren, schaute eine kleine Frau mit rundem Gesicht und einem Kopftuch vorsichtig aus der Haustür.
    »Das ist meine Mutter«, sagte Zeiner. Er hängte sich das Gewehr über die Schulter und ging Ascher voran in den Graben. Zuerst kamen sie hinter dem Hof zu einem lehmigen Weg mit kahlen Obstbäumen. Über den Pfützen lagen dünne, durchsichtige Eisschichten, die Zeiner absichtlich zertrat, um das Geräusch zu hören, mit dem sie einbrachen. Sie verließen den Weg und stiegen eine steile Wiese hinunter, wobei sie auf jeden Schritt achteten, um nicht zu stürzen. Als sie wieder den Weg erreichten, war er so lehmig, daß sie beim Gehen ein kleines Stück einsanken. Es war ein klarer, heller Morgen. Im Graben unten waren zwei Teiche von milchiggrünen Eisdecken überzogen. Unterwegs hatte Zeiner dem Hund einen Befehl zum Hasensuchen gegeben, der daraufhin in die Büsche gestoben war. Zwei Wildenten flogen auf, und als sie bei den Teichen angekommen waren, rief Zeiner den Hund mit einem Pfiff zurück. Ein langer hölzerner Futtersteg führte bis in die Mitte des einen Teiches. Plötzlich hielt Zeiner an, riß das Gewehr herunter und gab einen Schuß ab. Ascher war nichts aufgefallen, aber in der Richtung, in die das Gewehr zeigte, sah er etwas im Wasser verschwinden und unter das Eis tauchen. »Ich habe sie getroffen. Haben Sie es gesehen?« rief Zeiner. Es sei eine Bisamratte gewesen. Vermutlich hatte er sie nur gestreift, denn sie war unter das Eis

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